Berlin: Mehr als 100.000 demonstrieren für Frieden in der Ukraine
Dirk Bleicker; dirkbleicker.de
Um zehn nach zwei wird es so still auf der Straße des 17. Juni, dass aus dem nahen Berliner Tiergarten das Gezwitscher der Vögel zu hören ist. Die mindestens 100.000 Teilnehmer*innen (die Veranstalter*innen sprechen sogar von 500.000) der Kundgebung für Frieden in der Ukraine halten eine Schweigeminute ab für die Opfer, die der Überfall Russlands bereits gefordert hat. Aufgerufen hat ein breites Bündnis aus Gewerkschaften, Umweltverbänden und Kirchen, auch die SPD. Der Andrang ist so groß, dass kurz nach Beginn der Kundgebung auch der „Große Stern“ rund um die Siegessäule für den Verkehr gesperrt und als Versammlungsfläche freigegeben wird.
Ver.di-Chef Werneke: „Beenden sie den Angriffskrieg!“
„In diesem Moment sterben Menschen mitten in Europa“, erinnert ver.di-Chef Frank Werneke als erster Redner die Menschen, die bei blauem Himmel und Sonnenschein nach Berline-Mitte geströmt sind. Die vielen Menschen, die die Straße des 17. Juni füllen, wertet der Gewerkschaftsvorsitzende als „starkes Signal der Solidarität aus Berlin“. An den Auslöser des Konflikts appelliert Werneke: „Präsident Putin, beenden Sie den Angriffskrieg gegen die Ukraine.“ Und mit Blick auf die Demonstrant*innen, die in den vergangenen Tagen in Russland gegen den Krieg auf die Straße gegangen sind und verhaftet wurden, sagt er: „Lassen Sie die Gefangenen frei!“
Den Blick auf die Ukraine richtet die Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Annette Kurschus. „Das Blut, das in der Ukraine vergossen wird, schreit zum Himmel“, sagt die Theologin und vergleicht den „Bruderkrieg“ zwischen Russland und der Ukraine mit der biblischen Geschichte von Kain, der seinen Bruder Abel erschlug. „Wir verweigern uns der Spirale der Gewalt“, sagt Kurschus und plädiert dafür, nicht das russische Volk für den Krieg ihres Präsidenten verantwortlich zu machen. „Opfern und Tätern wird Recht wiederfahren“, sagt Kurschuss, „darauf hoffe und dafür bete ich“.
Ukrainerin Bienert: „Werden uns nicht wieder in Unfreiheit begeben“
Sehr viel deutlicher wird Alexandra Bienert. Sie wurde in der Ukraine geboren, lebt und arbeitet mittlerweile in Berlin. „Ich spreche hier als Aktivistin und als Enkelin eines ukrainischen Rotarmisten“, sagt sie. Den Tränen nah berichtet Bienert von den Telefonaten, die sie mit ihrer Mutter in Kiew führt. Von Minute zu Minute redet sie sich in Rage. „Dieser Krieg kommt nicht überraschend“, sagt sie. Und: „Ich frage mich, warum Deutschland so blind war.“ Der Krieg um die Ukraine sei „ein Krieg für unsere Unabhängigkeit – und das, obwohl wir seit 30 Jahren unabhängig sind“. Neben einem Embargo russischer Rohstoffe fordert Alexandra Bienert von der Europäischen Union auch Waffen. „Wir werden uns nicht wieder in Unfreiheit begeben“, sagt sie.
„Der Angriff Putins ist ein Angriff auf die offenen Grenzen und die Demokratie“, betont Chrisoph Bautz, Geschäftsführer der Organisation „Campact“. „Es ist ein Angriff auf uns alle.“ Um diesem zu begegnen müsse Putin mit aller Macht entgegengetreten werden. „Ich bin deshalb froh, dass sich die Bundesregierung entschieden hat, russische Banken von Swift abzuschneiden.“ Der nächste Schritt müsse ein „Importstopp für Gas, Öl und Kohle“ aus Russland sein, auch wenn das wirtschaftliche Einbußen bedeute. „Das sollten uns unsere Freiheit und die Menschen in der Ukraine wert sein“, meint Bautz.
Sozialdemokrat Steuer: „Meine Wut brauchte ein Ventil“
Während eine spontan am Vortag gebildete Band auf der Bühne „Imagine“ von John Lennon anstimmt, hält Karl-Heinz Schröter ein Schild vor der Brust. „Solidarität mit der Ukraine“, steht darauf und: „Nein zu Putins Krieg. Frieden jetzt!“ Der 80-Jährige ehemalige Pastor ist extra aus Graal-Müritz bei Rostock angereist, um an der Kundgebung teilzunehmen. Vor allem die EKD-Vorsitzende Kurschus habe ihm „aus dem Herzen gesprochen“, sagt er. „Der Gottesdienst findet heute hier statt.“
Dass Schröter an diesem Tag in Berlin ist, liegt an Eckehard Steuer. Er und Schröter hätten sich am Vortag an der Tankstelle getroffen und spontan verabredet, berichtet der Sozialdemokat. „Meine Wut über diesen Kriegsverbrecher brauchte ein Ventil“, nennt Steuer als Grund, dass er nach Berlin gekommen ist. Auf der Fahrt hat er im Auto die Regierungserklärung des Bundeskanzlers mitverfolgt, „die beste Rede, die ich bisher von Olaf Scholz gehört habe“. Nun müssten den Worten nur noch Taten folgen, sagt Karl-Heinz Schröter.
Darauf hofft auch Matthies Beier. Er hat neben einer Ukraine- auch eine SPD-Fahne an einen langen Stab gebunden. Er habe sich „mutlos“ gefühlt als er sich auf den Weg zur Kundgebung machte, erzählt Beier. Die vielen Menschen, die sich für ein Ende des Krieges einsetzen, hätten ihm jedoch wieder Mut gemacht. „Ich hoffe, dass die Regierung etwas tun kann“, sagt Beier. Wichtig sei, die Gespräche mit der russischen Regierung nicht abreißen zu lassen.
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.