Armutsbericht: Warum arme Menschen seltener wählen gehen
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„Keine Liebesheirat“ – diese Worte gebrauchen Politiker und Journalisten gerne, wenn SPD und Union eine gemeinsame Regierung bilden. Will heißen: Am liebsten wäre den Parteien eine andere Konstellation – sie konnten sich aber nur auf eine große Koalition einigen. Da liegt es in der Natur der Sache, dass es bei vielen Themen innerhalb der Regierung unterschiedliche Ansichten gibt. Der Armuts- und Reichtumsbericht (ARB) der Bundesregierung ist dafür ein Paradebeispiel.
Mehr Geld = mehr Macht
Seit über 15 Jahren gibt es den ARB. Im Jahr 2000 beschloss der Bundestag auf Antrag von SPD und Grünen, dass es alle vier Jahre eine umfassende Bestandsaufnahme der sozialen Lage in Deutschland geben müsse. Dies sei „die Voraussetzung für eine wirksame Bekämpfung von Armut“, hieß es in dem Antrag. Seither legt die Bundesregierung – unter Federführung des Arbeitsministeriums – zur Mitte einer jeden Legislaturperiode den Bericht vor.
So war der fünfte Armuts- und Reichtumsbericht auch für das Jahr 2016 geplant. Aus der Veröffentlichung wurde jedoch zunächst nichts. Der Grund: Die Union war nicht einverstanden mit der Darstellung, die Arbeitsministerin Andrea Nahles vorgesehen hatte. Denn die SPD-Politikerin hatte den Finger in die Wunde gelegt: „Die Wahrscheinlichkeit für eine Politikveränderung ist wesentlich höher, wenn diese Politikveränderung von einer großen Anzahl von Menschen mit höherem Einkommen unterstützt wird“, lautete ein Satz in ihrem Entwurf. Im Klartext: Wer mehr Geld hat, hat auch mehr politischen Einfluss in Deutschland. Ein Befund, den die Union offenbar so nicht festhalten wollte.
Kanzleramt frisiert Armutsbericht
Heftige Kritik kommt deshalb von Ulrich Schneider, Geschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes: „Regierungsamtliche Schönfärbereien und das Ringen um die passende Überschrift sind nicht nur peinlich, sie beschädigen die Glaubwürdigkeit des Berichts“, heißt es in einer Erklärung des Verbands.
Nach den Plänen der Regierung soll die aktuelle Version des Armuts- und Reichtumsberichts nun in die Ressortabstimmung gehen und dann im Laufe des Jahres dem Bundestag vorgelegt werden. Der von der Union kritisierte Satz zum politischen Einfluss Vermögender wird dann laut Medienberichten fehlen. Das Kanzleramt habe den Armutsbericht „frisiert“, schrieb dazu die Frankfurter Rundschau.
Andrea Nahles: „verfestigte Ungleichheit“
Aus gesellschaftspolitischer Sicht bleibt der Befund des Arbeitsministeriums dennoch alarmierend. Andrea Nahles sagte am Donnerstag in Berlin, es gebe in Deutschland eine „verfestigte Ungleichheit bei den Vermögen“. Die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung verfügten über rund die Hälfte des Nettovermögens. Das Hauptproblem, so Nahles: dass der Reichtum „sehr oft nicht auf eigener Leistung beruht“, sondern durch Vererbung und Schenkungen allzu häufig in der Familie bleibt. Dies gefährde den Zusammenhalt im Land, da viele daran zweifelten, ob ein sozialer Aufstieg überhaupt noch möglich sei.
Die Folge sei, „dass gerade ärmere Menschen sich aus der demokratischen Gemeinschaft zurückziehen, nicht mehr wählen gehen“, sagte Nahles. Die Zahlen geben ihr Recht: Lag die Wahlbeteiligung bei Bürgern mit geringem Einkommen im Jahr 1996 noch bei rund 85 Prozent, gingen 2014 nur noch rund 71 Prozent der ärmeren Menschen zur Wahl. Zum Vergleich: Die Wahlbeteiligung unter Reichen blieb im selben Zeitraum mit rund 86 Prozent gleich hoch.
Nahles bleibt bei ihrer Sicht
Dass dieser Befund mit dem größeren politischen Einfluss der Reichen zusammenhängen könnte, liegt auf der Hand. Die Strategen im Kanzleramt scheinen dies jedoch nicht in einem offiziellen Bericht der Regierung lesen zu wollen. Entsprechend musste sich Andrea Nahles den Änderungswünschen der Union beugen, um den Armuts- und Reichtumsbericht überhaupt vorlegen und in die parlamentarische Beratung bringen zu können. Allerdings bleibt sie bei ihrer ursprünglichen Position: Zwar wird in dem neuen Bericht der umstrittene Satz zum politischen Einfluss der Reichen wohl nicht mehr auftauchen. Trotzdem wiederholte Nahles am Donnerstag ihre Sicht. Die Ärmeren fühlten sich zunehmend von der Politik ausgeschlossen, sagte sie: „Weil sie erfahren: Je mehr Menschen mit hohem Einkommen eine bestimmte Meinung vertreten, desto wahrscheinlicher ist eine politische Entscheidung in ihrem Sinn.“
ist promovierter Sprachwissenschaftler und war bis Mai 2018 Redakteur beim vorwärts.