Inland

Armut nach Corona: Warum eine Kindergrundsicherung jetzt kommen muss

2,8 Millionen Kinder leben in Armut. Die Corona-Krise trifft gefährdete Familien besonders. Eine Kindergrundsicherung muss her, weil Armut begrenzt, beschämt und enorme Auswirkungen auf die Zukunft hat.
von Vera Rosigkeit · 22. Juli 2020

„Wie viele Studien sind eigentlich noch nötig, damit eine Kollektive Empörung gegenüber der unfassbaren Ungleichheit, die der Kapitalismus schafft, Druck auf die politischen Verantwortlichen ausübt?“, fragt SPD-Politikerin Hilde Mattheis am Mittwoch auf Twitter.

Mehr als jedes fünfte Kind gefährdet

Auslöser ist das zuvor von der Bertelsmann-Stiftung veröffentlichte „Factsheet Kinderarmut“. Danach sind aktuell 2,8 Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland von Armut bedroht. Mit 21,3 Prozent betrifft das mehr als jedes fünfte Kind. Trotz guter wirtschaftlicher Entwicklung vor der Corona-Krise hat sich an diesem Missstand in den vergangenen Jahren wenig verändert, so dass die Bertelsmann-Studie von einem „ungelösten strukturellen Problem“ spricht, das sich durch Corona noch verschlechtert hat.

Zunächst zu den Zahlen: Von den etwas mehr als 20 Prozent der Kinder, die armutsgefährdet aufwachsen, beziehen rund 14 Prozent Grundsicherung (SGB II/Hartz IV). Knapp die Hälfte von ihnen (45,2 Prozent) wächst in alleinerziehenden Familien auf. Auch wenn sich die materielle Versorgung von Kindern in der Grundsicherung in den vergangenen fünf Jahren laut Studie leicht verbessert hat, ist der relative Unterschied zu Kindern in gesicherten Verhältnissen bestehen geblieben. Insbesondere in den Bereichen Mobilität, Freizeit und soziale Teilhabe sind Familien im SGB II-Bezug teils erheblich unterversorgt.

Armut begrenzt und beschämt

Was aber bedeutet Armut für Kinder und Jugendliche konkret? Aufwachsen in Armut begrenzt, beschämt und bestimmt das Leben von Kindern auch mit Blick auf die Zukunft, heißt es in der Studie. Begrenzt, weil die betroffenen Kinder seltener einen ruhigen Ort zum Lernen haben und mit 24 Prozent über keinen Computer mit Internetzugang verfügen. Sie können seltener Kleidung kaufen, kaum etwas mit Freund*innen unternehmen, das Geld kostet (z.B. ins Kino gehen oder Eis essen) und erhalten seltener von ihren Eltern Taschengeld.

Sie schämen sich, Freund*innen nach Hause einzuladen, weil die Wohnung zu klein ist, schlagen Einladungen zum Geburtstag aus, weil sie kein Geschenk kaufen können, werden häufiger ausgegrenzt und erleben Gewalt. Darüber hinaus machen sie sich Sorgen über die finanzielle Situation der Familie, sind häufiger krank und haben zudem geringere Aufstiegschancen durch Bildung.

Corona verschärft die Situation

All dies werde laut Studie durch die Corona-Krise noch verschärft. Denn sie treffe die Eltern der benachteiligten Kinder und Jugendlichen besonders hart, weil sie häufiger in Teilzeit oder als Minijobber arbeiteten und deswegen zu der Gruppe gehörten, die als erste ihre Jobs verliert oder nur vergleichsweise wenig beziehungsweise gar kein Kurzarbeitergeld erhält.

Sozialverbände, Gewerkschaften und SPD-Politiker*innen nehmen die am Mittwoch veröffentlichte Bertelsmann-Studie zum Anlass, klare Forderungen zur Bekämpfung von Kinderarmut zu stellen. So spricht Arche-Gründer Bernd Siggelkow angesichts der Studie von einem „Schlag ins Genick für alle sozial benachteiligten Familien in Deutschland“. „Wir fordern, gerade nach den Sommerferien, dass es schnelle Lösungen geben muss, um den Kindern im Bildungsbereich zu helfen, die abgehängt sind. Wir fordern, dass das Bildungsgeld kurzfristig erhöht wird, damit die Kinder gefördert werden können. Das Homeschooling hat bei ihnen häufig versagt, da niemand da war, der sie unterstützt hat“, erklärt er.

Christiane Reckmann, Vorsitzende des Zukunftsforum Familie e.V. (ZFF), möchte, dass Kinder „raus aus dem stigmatisierenden Hartz IV-System kommen“. Das ZFF setze sich „seit 2009 mit vielen weiteren Akteur*innen für die Einführung einer Kindergrundsicherung ein“, sagt sie.

SPD will Kindergrundsicherung durchsetzen

Die SPD hat auf ihrem Bundesparteitag 2019 die Einführung einer Kindergrundsicherung beschlossen. Innerhalb der Bundesregierung hält SPD-Parteivizin Serpil Midyatli ihre Partei für die „treibende Kraft im Kampf gegen Kinderarmut und nur mit der SPD werden wir die Kindergrundsicherung in Deutschland einführen können“, betont sie am Mittwoch. Gleichzeitig kündigt sie noch mehr Investitionen in Infrastruktur für Bildung und Teilhabe an, damit Kitas, Schulen und Jugendeinrichtungen endlich besser ausgestattet werden. Midyatli wörtlich: „Hätten wir die Kinderrechte bereits im Grundgesetz verankert, würden die aktuellen Diskussion um die Unterstützung für Kinder in der Coronakrise anders laufen. Ich hoffe, dass CDU und CSU den Tatsachen ins Auge sehen und in Bewegung kommen.“

Michael Schrodi, Sprecher der Arbeitsgruppe Verteilungsgerechtigkeit und soziale Integration, kritisiert, dass viele Einzelleistungen für Kinder existierten, die ihr Ziel oft nicht erreichen, weil die Familien nichts von ihrem Anspruch wissen oder die Leistungen Spitzenverdienern stärker zugutekommen. „Mit der Kindergrundsicherung wollen wir die Leistungen vereinfachen, bündeln und erreichen, dass das Geld dort ankommt, wo es dringend gebraucht wird - bei den unteren und mittleren Einkommen. Anders als die CDU/CSU, die beim für Spitzenverdiener vorteilhaften Kinderfreibetrag bleiben will, drehen wir das bei der Kindergrundsicherung um, damit Kinder aus finanziell schwächeren Familien mehr profitieren."

Für die stellvertretende Fraktionsvorsitzende Katja Mast ist diese „Kindergrundsicherung Voraussetzung dafür, damit es jedes Kind packt!“, schreibt sie am Mittwoch auf Twitter. Es gehe um eine auskömmliche Geldleistung für jedes Kind und ein starkes öffentliches Angebot, das Bildung und Teilhabe ermögliche.

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Vera Rosigkeit

hat Politikwissenschaft und Philosophie in Berlin studiert und ist Redakteurin beim vorwärts.

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