Arbeitszeit 4.0: Ständig verfügbar oder individuell gestalten?
Liesa Johannssen/photothek.net
Sie ist nicht nur, wie es Bundesministerin Andrea Nahles nennt, ein „hart umkämpftes Gut“, sie ist vor allem Zukunftsthema: Die Arbeitszeit. Denn sie bleibt nicht unberührt von der zunehmenden Digitalisierung, die viele Arbeiten von verschiedenen Orten jederzeit möglich macht und dadurch Spielräume schafft für mehr Flexibilität.
Im Interesse der Arbeitnehmer
Eine Flexibilität, die neue Chancen für eine individuellere Arbeitsgestaltung und eine bessere Balance von Arbeit und Leben möglich machen könnte, wenn sie im Interesse der Beschäftigten genutzt wird. Dieses Ziel verfolgen derzeit vor allem die Bundesarbeitsministerin und die Gewerkschaften gemeinsam. Sie wollen die Chancen im Digitalisierungsprozess im Sinne der Arbeitnehmer nutzen. Wissen jedoch, „dass das kein Selbstläufer ist, sondern hart gegenüber Wirtschaftsinteressen erkämpft werden muss“, erklärt Andrea Nahles auf einer Arbeitszeitkonferenz „#Zeit zu gestalten“ der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) und des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) in Berlin.
Eine Milliarde unbezahlte Überstunden
Schnell wird deutlich, dass das hohe Maß an Arbeitszeitflexibilität, das schon heute praktiziert wird, vor allem zur Ausweitung der Arbeitzeit geführt hat. DGB-Chef Reiner Hoffmann spricht in diesem Zusammenhang von einer Milliarde unbezahlter Überstunden, die 2015 in Deutschland geleistet wurden. Er kritisiert, dass mehr als die Hälfte der Beschäftigten keinerlei Mitspracherecht bei der Gestaltung ihrer Arbeitszeit habe und zwei Drittel darüber klagten, dass die Arbeitsverdichtung zugenommen hätte. Hoffmann warnt vor einer „digitalen Entgrenzung“. Gleichzeitig sei der Wunsch groß, die Arbeitszeit dem eigenen Lebensrhythnus anzupassen, mobiles Arbeiten mache dies möglich. Doch die Chancen auf mehr Arbeitszeitsouveränität werden nicht von alleine kommen, so sein Fazit.
Nahles will Wahlarbeitszeit-Gesetz
Der Bedarf für neue gesetzliche Regelungen ist groß, davon ist auch Nahles überzeugt, die mehr Flexibilität nur gegen mehr Sicherheiten und mehr Zeitsouveränität für die Beschäftigten zulassen will. Erste Vorschläge habe sie bereits nach einem langen Dialogprozesses in ihrem Weißbuch Arbeiten 4.0 zusammengefasst, erklärt sie. Einen nennt sie „Wahlarbeitszeit-Gesetz“. Es soll ermöglichen, in Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen flexiblere Lösungen zu finden, als es das Arbeitszeitgesetz bisher erlaubt. Um die Zukunft der Arbeit auch im Sinne der Beschäftigten zu gestalten, möchte sie Arbeitgebern und Gewerkschaften Raum geben, mehr auszuprobieren. Dazu plant sie eine zeitlich befristete Experimentierklausel im Arbeitszeitgesetz. Allerdings mit klaren Grenzen für die maximale Länge der Arbeitszeit, räumt sie ein. Es müsse eine gesicherte Ruhezeit geben. Nahles: „Am Arbeits- und Gesundheitsschutz lasse ich nicht rütteln.“
Recht auf befristete Teilzeit ist erster Schritt
In die Gesetzgebung eingebracht hat sie bereits einen Gesetzentwurf zur Weiterentwicklung des Teilzeitrechts. „Denn es ist die Lage der Arbeitszeit, die darüber entscheidet, ob Arbeiten in Vollzeit oder großer Teilzeit mit den Hortzeiten der Kinder, Kurszeiten der Weiterbildung oder dem Umfang des Pflegedienstes vereinbar ist – oder eben nicht“, sagt sie. Der Anspruch auf befristete Teilzeit, der für alle Arbeitnehmer gilt und nicht an Gründe gebunden ist, wird von den Gewerkschaften begrüßt, von Arbeitgebern jedoch abgelehnt.
Auch Wissenschaftler und Experten sehen die zwei gegenläufigen Trends im derzeitigen Wandel der Arbeit. Eine positive Entwicklung hin zu mehr Zeitsouveränität sei möglich, betont der Soziologe Andreas Boes. Er betont jedoch gleichzeitig die vielfältigen Risiken eines „Always On“, der permanenten Bereitschaft sich einzubringen verbunden mit den Verfügbarkeitserwartungen von Unternehmen. Boes bringt jedoch weitere Überlegungen in die Diskussion ein. Warum nicht die Produktionsfortschritte gerechter verteilen und die Arbeitszeit generell verkürzen? Das hätte durchaus positive Effekte, z.B. mit Blick auf Qualifizierung. Die brauche Zeit und müsse in Lebenszeitkonzepten verankert werden, so Boes.
hat Politikwissenschaft und Philosophie in Berlin studiert und ist Redakteurin beim vorwärts.