Inland

Arbeitsmarkt: „Ein Wettrennen nach Jerusalem?“

von Die Redaktion · 6. Oktober 2006
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Ihre persönlichen Erfahrungen mit dem Niedriglohnsektor hat Christine Bergmann (SPD) als Mitglied des Ombudsrates "Grundsicherung für Arbeitssuchende" gemacht. Die frühere Bundesfamilienministerin erzählt von Call Centern, in denen die Mitarbeiter, meist Frauen, 40 bis 48 Stunden die Woche für ein Monatsgehalt zwischen 600 und 900 Euro arbeiten. Auch mit von der Vermittlung von Ein-Euro-Jobs kann Christine Bergmann berichten: "Viele kamen zu uns, weil sie einen Ein-Euro-Job haben wollten." Dabei sei es den Bewerbern vor allem um die Teilhabe am aktiven Leben und die Überwindung von Ausgrenzung gegangen. Der geringe Zusatzverdienst habe nur eine untergeordnete Rolle gespielt. "Viele verbinden mit dem Ein-Euro-Job die Hoffnung, wieder den Sprung in den Arbeitsmarkt zu schaffen ."

Allerdings sei sie auch auf große Resignation gestoßen. , erklärt Bergmann. "Viele geben sich auf. Sie sehen keine Chance, keine Perspektive mehr." Auch wenn sie die meisten der Arbeitsmarktreformen, die in den letzten Jahren umgesetzt wurden, für richtig hält, spart Christine Bergmann nicht mit Kritik. So hat sie festgestellt, dass "Minijobs keine Brücke zum Arbeitsmarkt sind", sondern dass vielmehr ehemals sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse in Minijobs umgewandelt worden seien. Ferner habe die Regierung de facto ein Kombilohnmodell geschaffen, das sich aus Niedriglohn plus Zusatzfinanzierung ergebe. Christine Bergmann: "Um derartige Entwicklungen zu stoppen, brauchen wir den gesetzlichen Mindestlohn."

Nach Ansicht von Gustav Horn vom Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in Düsseldorf leidet der Arbeitsmarkt unter einem globalem Beschäftigungsdefizit. So lange dies nicht behoben sei, müssten die Brücken ins Leere führen. "In Deutschland herrscht der weit verbreitete Irrtum, dass man Probleme des Arbeitsmarktes nur auf dem Arbeitsmarkt lösen kann", urteilt der Forscher. Deutschland stecke in einer Wachstumskrise, was vor allem ein Problem der Gütermärkte sei. Gustav Horn: "In der Vergangenheit wurden die Lasten falsch verteilt." Vor allem die Sozialsysteme seien zu stark belastet worden. Auch in der Wirtschaftspolitik habe man falsch agiert. "Im Jahr 2000, als wir drei Prozent Wirtschaftswachstum hatten, wurde kräftig auf die Bremse getreten. So konnten sich die Gütermärkte nicht voll entfalten", erklärt der Ökonom. Dies sei einer der Gründe, "warum es auf dem Arbeitsmarkt ein Wettrennen nach Jerusalem gibt".

Ulrich Walwei, Professor am Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung in Nürnberg, erwartet in den nächsten Jahren drastische Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt. Der Forscher prophezeit: "Die Arbeitsmarktprobleme von heute sind andere als die Probleme von morgen." Die Nachfrage nach gering qualifizierten Kräften gehe weiter zurück. Gleichzeitig werde der Dienstleistungsmarkt noch stärker wachsen, sodass sich der heute schon einsetzende Fachkräftemangel auch vor dem Hintergrund des demografischen Wandels noch deutlich verschärfen werde. Walwei geht davon aus, dass sich der Niedriglohnsektor weiter ausdehnen wird.

Dass der Arbeitsmarkt vor einem tiefgreifenden Wandel steht, bestätigt der Staatssekretär im Bundesarbeitsministerium, Heinrich Tiemann (SPD). Er macht dies am Beispiel der älteren Arbeitnehmer deutlich. Mit Blick auf die Herausforderungen des Arbeitsmarktes von morgen sei es ganz wichtig, dieses Potenzial nicht ungenutzt zu lassen. "Wir müssen ältere Arbeitnehmer wieder eingliedern beziehungsweise deren Ausgliederung verhindern", sagt er. Das Kombilohnmodell von Arbeitsminister Franz Müntefering (SPD) sei ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Tiemann nennt auch die Schlagworte "Verlängerung der Lebensarbeitszeit" und "Rente mit 67". Mit seiner Positionierung in dieser Frage habe der Bundesarbeitsminister im Frühjahr einen Aufschrei ausgelöst. "Dadurch wurde aber eine wichtige Diskussion eröffnet." Heute werde auf allen Ebenen über ältere Arbeitnehmer gesprochen. "Wir haben die Agenda dieser Republik verändert", resümiert der Staatssekretär.



Jürgen Dierkes


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