Arbeit der Zukunft: Warum wir eine Anti-Stress-Verordnung brauchen
Zunehmend verweisen Studien darauf, dass die Digitalisierung der Arbeitswelt mit psychischen Belastungen am Arbeitsplatz einhergeht. Frau Jürgens, sie leiten die Kommission „Arbeit der Zukunft“. Zu welchen Ergebnissen kommen Sie?
Zu Überlastung und Erschöpfung kommt es zwar auch aus privaten Gründen, aber die Forschung belegt einen klaren Zusammenhang zur Arbeitswelt. Wir arbeiten heute beschleunigter, flexibler, mobiler und selbstbestimmter als früher. Das ist ein Fortschritt, bringt aber auch viele neue Anforderungen mit sich. Auch die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist längst nicht erreicht – und sie wird durch die absehbaren Bedarfe der Pflege von Angehörigen nochmal verschärft.
Wie sehen die gesundheitlichen Gefährdungen aus, die sich durch den digitalen Wandel ergeben?
Der technologische Fortschritt gibt uns immer wieder neue Arbeitsmittel an die Hand. Heute sind wir jederzeit erreichbar, stehen in permanenter Verbindung zu Freunden, aber eben auch zur Arbeit; viele Erwerbstätige können dank Internet, Datenclouds und Notebooks von allen Orten aus tätig werden. Das alles ist einerseits eine unheimliche Erleichterung, wenn wir uns vernetzen und flexibel kooperieren können – es ist aber andererseits auch oft eine Belastung. Die Arbeit ist viel dichter geworden und Abläufe sind beschleunigt; statt nacheinander erledigen wir vieles gleichzeitig. Wir müssen also selbst im Blick behalten, dass die Arbeitszeit nicht ausufert und Zeit für Pausen und Erholung bleibt. Das fällt gerade dann schwer, wenn ich meine Arbeit gern mache – oder wenn ich unter besonderem Leistungsdruck stehe, z.B. als befristet Beschäftigte.
Ihre Kommission analysiert in ihrem Abschlussbericht nicht nur die Auswirkungen der Digitalisierung, sie unterbreitet auch konkrete Vorschläge, was zu tun ist. Wie lassen sich gesundheitliche Belastungen vermeiden?
Es gibt bereits bewährte Instrumente, die aber schlicht in der Umsetzung nicht gut funktionieren. Nehmen wir die Gefährdungsbeurteilung, mit der es gelingen soll, präventiv anzusetzen, d.h. die Ursachen von Überlastung rechtzeitig zu erkennen und zu beheben: Arbeitgeber sind hierzu verpflichtet, aber nur rund die Hälfte der Unternehmen führt sie durch, davon wiederum die Hälfte nicht vollständig. Vorschläge für eine Anti-Stress-Verordnung wurden bislang abgelehnt, doch würden dadurch gerade die Ursachen psychischer Belastung besser erkennbar und vermeidbar. Vor allem: Allein die Durchführung von Gefährdungsbeurteilungen nützt nichts, es müssen auch Taten folgen, wenn Missstände erkannt wurden.
Wo sehen Sie den Gesetzgeber besonders gefordert?
Er hat zunächst die Aufgabe, die Einhaltung der schon bestehenden Gesetze und Instrumente durchzusetzen. Er müsste also durch Kontrollen sicherstellen, dass die in Deutschland recht guten Regeln zum Arbeits- und Gesundheitsschutz auch zur Anwendung kommen und offenkundige Mängel beseitigt werden. Viele, insbesondere kleine Betriebe tun sich oft schwer, nicht selten weil die Verantwortlichen selbst überlastet sind. Hier sind deshalb Beratungs- und Unterstützungsangebote nötig. Ein Fakt: In tarifgebundenen Betrieben sieht die Lage besser aus. Der Gesetzgeber kann also auch über Anreize zur Tarifbindung für eine nachhaltige Arbeitsgestaltung sorgen.
Wie hoch schätzen Sie die Spielräume ein, den derzeitigen Veränderungsprozess im Interesse der Beschäftigten zu beeinflussen?
Die Interventionen sind aus meiner Sicht alternativlos. Menschen brauchen Zeit für die Aufgaben in den unterschiedlichen Lebensbereichen, und die Wirtschaft ist auf kreative und anhaltend leistungsfähige Arbeitskräfte angewiesen. Eine gute Arbeitsorganisation, die den Bedürfnissen und den Verpflichtungen der Menschen gerecht wird, kann deshalb nicht dem Zufall überlassen bleiben und ist alles andere als eine „Spielwiese“: Sie sichert motivierte Mitarbeitende und rechnet sich betrieblich, vor allem aber volkswirtschaftlich. Denn die Kosten von gesundheitlichem Verschleiß muss letztlich die Solidargemeinschaft tragen.
*Prof. Dr. Kerstin Jürgens ist Professorin für Soziologie an der Universität Kassel und leitet die Kommission „Arbeit der Zukunft“ bei der Hans-Böckler-Stiftung.
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hat Politikwissenschaft und Philosophie in Berlin studiert und ist Redakteurin beim vorwärts.