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Andrea Nahles zum SPD-Sozialstaatskonzept: „Wir wollen einen Kulturwandel“

SPD-Chefin Andrea Nahles erklärt, was das neue Sozialstaatskonzept verändern soll, wie die SPD Hartz IV hinter sich lassen will und wie sie die Chancen auf eine Umsetzung der Pläne in der großen Koalition einschätzt.
von Karin Nink · 21. Februar 2019
SPD-Partei- und Fraktionschefin Andrea Nahles: „16 Jahre nach der Agenda 2010 ist jetzt eine Grundsanierung nötig."
SPD-Partei- und Fraktionschefin Andrea Nahles: „16 Jahre nach der Agenda 2010 ist jetzt eine Grundsanierung nötig."

Andrea Nahles, der SPD-Vorstand hat ein Konzept für einen „neuen Sozialstaat“ beschlossen. Warum brauchen wir den?

Die Agenda 2010 ist jetzt 16 Jahre her. Der Arbeitsmarkt ist heute ein komplett anderer. Wir haben keine Massenarbeitslosigkeit mehr, dafür erleben wir einen rasanten Wandel, etwa durch die Digitalisierung. Darauf muss auch der Sozialstaat Antworten geben. Ich war kürzlich bei den Hafenarbeitern in Bremerhaven. Dort sind die Folgen der Digitalisierung greifbar. Auf die Sorgen der Kolleginnen und Kollegen müssen wir reagieren.

Welche Antworten gibt das neue ­Sozialstaatskonzept der SPD darauf?

Angesichts des großen Tempos der Veränderungen ist eine wichtige Antwort das Recht auf Weiterbildung für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, das wir einführen wollen. Qualifizierung ist das entscheidende Thema unserer Zeit. Wir wollen ansetzen, bevor ­Arbeitslosigkeit entsteht. Und für diejenigen, die ihren Job verloren haben, soll es schon nach drei Monaten mit dem Arbeitslosengeld Q einen Anspruch auf Qualifizierung geben. Weiter wollen wir für die, die Jahrzehnte Sozialbeiträge gezahlt haben, das Arbeitslosengeld I länger als bisher zahlen, bis zu drei ­Jahre.

Das Sozialstaatskonzept der SPD will das bisherige Arbeitslosengeld II, auch Hartz IV genannt, durch das sogenannte Bürgergeld ersetzen. Was genau soll dadurch anders werden?

Das neue Bürgergeld soll den Menschen den Rücken freihalten, damit sie sich ganz auf die Arbeitssuche konzen-trieren können. In den 2000er Jahren wurde angesichts von mehr als fünf Millionen Arbeitslosen stark auf Sanktionen und Kontrolle gesetzt. Wir stellen aber fest: Nur etwa drei Prozent der Leistungsberechtigten werden sank­tioniert. Fehlverhalten ist also die große Ausnahme und nicht die Regel. Wir wollen also einen Kulturwandel: Der Staat soll Partner der Menschen sein, nicht Kontrolleur.

Es bleibt beim Prinzip Fördern und Fordern?

Ja, es bleibt bei Mitwirkungspflichten, das ist auch fair gegenüber denen, die das Geld erarbeiten. Aber wir verschieben die Gewichte – weg vom Misstrauen hin zum Zutrauen. Es geht um Anreize und Ermutigung der Menschen. Da müssen wir besser werden. Viele haben an der bisherigen Regelung kritisiert: Das Fordern kriegt ihr gut hin, aber wie ist es denn mit dem Fördern? Diese Frage war berechtigt, und wir haben eine überzeugende Antwort gefunden.

Kritiker von Links sagen, das neue Bürgergeld sei das Eingeständnis, dass Hartz IV gescheitert sei.

Nein, die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe, der Kern der Reform, war und ist richtig. Das sagen nahezu alle Praktiker. Aber 16 Jahre nach der Agenda 2010 ist jetzt eine Grundsanierung nötig. Es geht nicht um die Debatte, wer hatte 2003 Recht? Es geht darum, ganz nüchtern zu analysieren, was hat funktioniert und was nicht. Genau das haben wir gemacht. Und dazu gehört, Fehler zu korrigieren. Etwa die scharfen Sanktionen für Jüngere. Sie haben nur dazu geführt, dass Jugendliche abgetaucht sind und für die Hilfsangebote nicht mehr erreichbar waren. Ein weiterer Punkt, den wir korrigieren: Wer langjährig in die Sozialsysteme eingezahlt hat, muss mehr herausbekommen als jemand, der nichts eingezahlt hat. Das ist eine Frage der Gerechtigkeit und der Lebensleistung. Auch im Sozialstaat muss sich Leistung lohnen.

Union und FDP kritisieren, das ­Sozialstaatskonzept sei nicht gegen­finanziert.

Wer das sagt, hat das Konzept nicht verstanden. Wir geben für unseren Sozialstaat jährlich eine Billion Euro aus. Das Geld muss so eingesetzt werden, dass alle erkennen: Es geht gerecht zu, und wir sind auf der Höhe der Zeit. Es geht darum, Menschen etwa durch Qualifizierung in Arbeit zu halten bzw. sie möglichst schnell wieder in Arbeit zu bringen. Das ist die Vermeidung von Langzeitarbeitslosigkeit und das verursacht im Ergebnis keine Kosten – im Gegenteil. Anders sieht es bei der Rente aus, hier führen mehr Leistungen zu höheren Kosten.

Das gilt auch für das Modell der Grund­rente von Hubertus Heil?

Richtig. Hier geht es uns um mehr Leistungsgerechtigkeit. Wer 35 Jahre lang gearbeitet, Kinder erzogen oder Angehörige gepflegt hat, verdient eine Rente oberhalb der Grundsicherung – ohne Wenn und Aber. Das ist ein Gebot der sozialen Gerechtigkeit. Und das sollte uns als Staat etwas wert sein.

Die Union behauptet, das sei nicht bezahlbar.

Die Union will zehn Milliarden Euro locker machen, damit Hochvermögende vom Soli entlastet werden. Wir sagen: Statt Steuergeschenken für Reiche wollen wir eine Grundrente gegen Altersarmut. Das ist keine Frage der Finanzierung, sondern eine der Prioritäten.

Im Koalitionsvertrag sei eine Bedürftigkeitsprüfung für eine Grundrente vereinbart, argumentiert die Union. Heils Konzept sieht die aber nicht vor.

Der Koalitionsvertrag sagt aber auch, wir wollen die Grundrente in der Rentensystematik lösen. Das heißt: Es geht nicht um Bedürftigkeit, es geht um Anerkennung und Respekt vor Lebensleistungen. Wer 35 Jahre gearbeitet hat, hat sich einen Anspruch erworben. Unser Modell kommt drei bis vier Millionen Menschen zugute. Das der Union nur etwa ein- bis zweihunderttausend. Das wäre keine Grundrente, das wäre eine Mogelpackung. Ich glaube, die Menschen haben ein sehr genaues Gespür dafür, wer es mit der Grundrente ernst meint und wer nicht. Ich sage: Entweder, wir machen eine Grundrente, die den Namen auch verdient, oder es gibt richtig Krach mit der Union. Da bin ich sehr entschieden.

Die SPD will die Arbeitsbedingungen verbessern, mit mehr Flexibilität bei den Arbeitszeiten und einem Recht auf Homeoffice. Das dürfte kleine Unternehmen vor Probleme stellen.

Wie bei allen Sozialgesetzen wird es auch hier eine Klausel geben, die Kleinstbetriebe entlastet. Wir wollen, dass künftig die Arbeitgeber begründen müssen, warum Homeoffice in ihrem Betrieb nicht geht. Bisher mussten die Beschäftigten erklären, warum sie Homeoffice brauchen. Unser Plan ist auch eine Antwort auf den Arbeitskräftemangel und fördert Frauen. Denn sicher würde es gerade vielen Frauen das Leben erleichtern, mehr zu arbeiten, wenn sie das teilweise von zuhause aus tun könnten. Homeoffice verbessert die Vereinbarkeit mit der Familie, die Motivation, die Arbeitsleistung und das Betriebsklima.

Ein weiterer Baustein ist die Kindergrundsicherung. Was soll sie leisten?

Rund 150 Milliarden Euro geben wir für Familienleistungen aus, und 2,5 Millionen Kinder leben von der Grundsicherung, die für Arbeitssuchende gedacht ist. Das kann doch nicht wahr sein. Wir wollen eine eigenständige Absicherung für Kinder, unabhängig vom Erwerbsstatus der Eltern. Und hier wollen wir die Leistung aus einer Hand anbieten, gebündelt als Einmalzahlung. Das entlastet alle Beteiligten von Bürokratie.

Welche Umsetzungschancen haben alle diese Vorschläge in der Koalition mit CDU und CSU?

Ich glaube, dass da einiges möglich ist. Uns ging es zunächst einmal darum zu zeigen, was wir für richtig und wichtig halten. Klar ist: Bei keinem unserer Vorschläge, ob beim Mindestlohn oder beim Rückkehrrecht von Teilzeit in Vollzeit, hat die Union jemals gejubelt. Aber mit beharrlicher Überzeugungsarbeit haben wir uns durchgesetzt. Das wird keine Kurzstrecke, sondern ein Langstreckenlauf. Und dafür sind wir gut gerüstet.

Die aktuellen Umfragen scheinen den neuen Kurs der Partei zu bestätigen.

Wir gehen diesen Weg, weil wir ihn für richtig halten. Wenn das auf breite Zustimmung bei den Bürgerinnen und Bürgern stößt, freue ich mich. Wir wollen Vorreiter sein, wenn es um einen modernen Sozialstaat oder die Bekämpfung von Altersarmut geht

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Karin Nink

ist Chefredakteurin des "vorwärts" und der DEMO – Das sozialdemokratische Magazin für Kommunalpolitik sowie Geschäftsführerin des Berliner vorwärts-Verlags.

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