Andrea Nahles: „Das Liederbuch der Marktradikalen verliert an Kraft“
Ob Globalisierung, Klimawandel oder Investitionsdefizite in Infrastruktur und Wohnungsbau – „um die epochalen Umbrüche der Zeit zu gestalten, brauchen wir eine progressive Wirtschaftspolitik – sie ist auch die Voraussetzung zur Einhaltung unserer Klimaziele“. Davon ist Andrea Nahles überzeugt. Die Menschen wünschten mehr Regulierung und mehr Staat, für sie „eine äußerst positive Entwicklung“, erklärt die SPD-Parteichefin am Mittwoch in Berlin beim Tag der Progressiven Wirtschaftspolitik, einer gemeinsamen Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung, dem Deutschen Gewerkschaftsbund und des IMK in der Hans-Böckler-Stiftung.
Mindestbesteuerung muss kommen
Ideen sind gesucht, wenn es darum geht, soziale und auch ökologische Herausforderungen zu gestalten. Laut Nahles brauche es keinen neuen Begriff für die Soziale Marktwirtschaft, es brauche nur eine Transformation in die neue Zeit.
Stärken will sie vor allem Europa und das nicht, weil Wahlen anstehen, betont sie. Europa sei die richtige Ebene, um bei entscheidenden Fragen nicht zu kurz zu springen. Ein starkes Europa könne Taktgeber sein, etwa beim Einsatz von Künstlicher Intelligenz oder im Umgang mit dem Rohstoff Daten und deren Nutzungsrechten. Hier wie bei der Steuerpolitik könne man gemeinsam agieren, sagt sie und fordert klare Regeln in der Fiskalpolitik: „Wer in Europa Gewinne macht, muss hier auch Steuern zahlen.“ Sollte eine Mindestbesteuerung auf OECD-Ebene keine Mehrheit erhalten, kündigt Nahles sie für Europa an. In der zweiten Hälfte 2020 habe Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft, für sie „eine Puschsituation“, um die Mindestbesteuerung zum zentralen Thema zu machen.
Ungleichheit ist Bremse für EU
Zur Sozialen Marktwirtschaft gehört für sie aber auch die Sozialpolitik: „Der Riss der Ungleichheit ist eine große Bremse für die EU“, warnt Nahles. In Bulgarien liege der Mindestlohn bei 1,87 Euro. Es brauche jedoch in jedem Land einen Mindestlohn, von dem man leben könne. Und eine Arbeitslosenrückversicherung, um „antizyklisch“ zu agieren. Länder in Krisenzeiten zu unterstützen, die dann, wenn es ihnen wieder besser gehe, den Kredit zurückzahlen, erklärt die SPD-Chefin.
Eine entscheidende Frage an progressive Wirtschaftspolitik ist für sie, wie notwendige Investitionen ermöglicht werden können. Frühere Antworten hießen immer „Privatisierung“, soziale Investitionen galten als Ausgaben, kritisiert sie: „Das ist falsch.“ Sie sei erleichtert, dass dieser „Pragmatismus“ aufbricht, das „Liederbuch der Marktradikalen“ an Kraft verliere und Raum für neue Ideen zulasse. Zum Beispiel für neue Investitionsregeln. Sie habe noch keine Antworten, wie Investitionen in richtige Bereiche fließen und neue, kreative Wege ermöglicht werden könnten. Zur CO2-Bepreisung erklärt sie, dass dies kein Mittel zur Erhöhung von Steuereinnahmen sei, sondern eine Lenkungswirkung haben solle.
Weltweit würden grundlegende Debatten geführt. Bei der Bewegung „Fridays for Future“ gehe es nicht nur um Klimapolitik, sondern darum, Wirtschaft nachhaltig zu gestalten, so Nahles.
Wirtschaftliche Ideen stärken gesamte Demokratie
Im Verlauf der Veranstaltung wird die Rede immer wieder darauf kommen, wie wichtig es gerade für die Sozialdemokratie sei, mit kraftvollen wirtschaftlichen Ideen die gesamte Demokratie zu stärken. Auch Sheri Berman, Professorin für Politikwissenschaft an der Columbia University New York, greift zum Ende der Veranstaltung diesen Gedanken auf, wenn sie sagt „Die Fähigkeit, ein positives Bild vom Zusammenwirken von Gesellschaft und Wirtschaft zu malen, ist ursprünglich die große Aufgabe der Sozialdemokratie gewesen.“
Schon nach dem Ersten Weltkrieg hätten westeuropäische Staaten versucht, wirtschaftliches Wachstum zu fördern und Bürger vor Kapitalismus zu schützen. Das sei wichtig, denn soziale und wirtschaftliche Themen tangierten das Sicherheitsgefühl aller Menschen. Ein demokratisches Bedürfnis revitalisieren könne die Sozialdemokratie mit einer Kraft, auf die sie schon nach 1945 zurückgriff: Zu überzeugen, dass Sozialdemokratie eine bessere Welt schaffen kann.
hat Politikwissenschaft und Philosophie in Berlin studiert und ist Redakteurin beim vorwärts.