Inland

Analphabetismus im Betrieb: Wenn Kolleg*innen Unterstützung brauchen

Jeder 10. Beschäftigte kann nicht gut genug lesen und schreiben, um Formulare auszufüllen. Die Digitalisierung trifft sie besonders hart, weil sie Fortbildungen aus Angst, entdeckt zu werden, vermeiden. Wie man sie trotzdem unterstützen kann.
von Vera Rosigkeit · 28. April 2017

Jedes Jahr folgen viele Tausend Arbeitnehmer*innen dem Aufruf der DGB-Gewerkschaften zum 1. Mai, um für ihre Rechte, für soziale Gerechtigkeit und gegen Ausgrenzung auf die Straße zu gehen. Unter ihnen sind Kolleginnen und Kollegen, die diesen Aufruf gar nicht lesen können.

Funktionaler Analphabetismus

Glauben Sie nicht? Trotz Schulpflicht können in Deutschland 7,5 Millionen* Menschen zwischen 18 und 64 Jahren nicht vollständig lesen und schreiben. Davon sind 4,5 Millionen erwerbstätig. Das ist jeder 10. Beschäftigte. Einige unter ihnen können lediglich Buchstaben erkennen, andere einzelne Wörter. Und auch wenn der Großteil in der Lage ist, kleine Sätze zu bilden, wird es beim Schreiben und Verstehen eines kurzen Textes schon schwierig. Man spricht hier vom funktionalen Analphabetismus.

Wie diese Menschen im Leben zurechtkommen? Täglich ihre Arbeit meistern? „Das sind zum Teil Lebenskünstler“, erklärt Martin Sieber. Niemand gestehe sich gerne ein, etwas schlecht oder nicht zu können, sagt er. Deshalb lernen sie vieles auswendig oder werden unterstützt von Kolleg*innen. „Das geht so lange gut, wie sie in Teams zusammen arbeiten.“

Einen eigenen Bildungsweg finden

Sieber ist einer von knapp 500 Mentorinnen und Mentoren, die bisher an einer Schulung für Alphabetisierung und Grundbildung in der Arbeitswelt teilgenommen haben. Die Ausbildung ist Teil eines bundesweiten Projekts des DGB-Bildungswerks, das mit Hilfe eines kollegialen Netzwerkes Betroffene unterstützen will, ihren eigenen Bildungsweg zu finden.

Denn die rasant fortschreitende Digitalisierung dränge besonders diese Kollegen zunehmend in die Enge, sagt Sieber, der selbst viele Jahre in der Produktion tätig war. Teams würden immer schneller auseinander gerissen und auch einfache Arbeitsplätze seien heute ohne Bildschirm und Tastatur kaum noch denkbar. Sieber: „Für die Zukunft der Arbeit wird Weiterbildung zum Muss.“

Lieber kündigen, als sich outen

Doch gerade diese Kolleg*innen verweigerten sich wegen fehlender schriftsprachlicher Kenntnisse bei Fortbildungen und hätten somit ein erhöhtes Risiko, den Anschluss an eine sich ändernde Arbeitswelt zu verpassen, weiß auch Inga Neubauer. Sie ist eine der zuständigen Koordinatorinnen des Projekts MENTO. „Die Betroffenen würden lieber kündigen, als sich zu outen“, sagt sie.

Gerade deshalb sei es so wichtig, dass ausgebildete Mentor*innen wie Martin Sieber keine externen Personen, sondern vertraute Kolleg*innen und damit Ansprechpersonen auf Augenhöhe seien. „Sie können in den Betrieben ein Bewusstsein dafür schaffen, dass 4,5 Millionen Beschäftigte nicht gut genug lesen und schreiben können, um Formulare auszufüllen, E-Mails schreiben oder Warnhinweise zu lesen“, sagt Neubauer.

Projekt gehört in jeden Betrieb

Als Betriebsrat hat Martin Sieber im Anschluss an seine dreitägige Mentorenfortbildung das Thema auf die Agenda der Betriebsversammlung gesetzt. Einerseits, um Kollegen für dieses Thema zu sensibilisieren, andererseits um möglichen Betroffenen zu zeigen, dass er als Vertrauensperson für eine Beratung zur Verfügung steht. „Wenn sie sich mir anvertrauen, kann ich ihnen Lernmöglichkeiten aufzeigen, denn sie können das selbst nicht googeln“, sagt er.

Eigentlich müsste es im Interesse der Betriebe sein, vorhandenes Personal so gut wie möglich weiterzubilden, „denn wir haben schon heute ein Fachkräfteproblem“, so Sieber. Darüber hinaus müsse es nicht nur im Interesse der Betriebe, sondern der Gesellschaft sein, niemanden abzuhängen, ist er überzeugt. „Endlich einen Einkaufszettel oder sogar ein Buch lesen zu können, bedeutet auch, ganz viel Lebensqualität zurückzugewinnen.“

Für dieses Anliegen macht sich Sieber auch in der Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen der SPD stark, denn das Thema müsse auf die politische Agenda, sagt er. Sieber: „Dieses Projekt gehört in jeden Betrieb“.

*Anmekrung: Dieser Textbeitrag stammt ursprünglich aus dem Jahr 2017. Das Problem ist nach wie vor päsent. Laut Ergebnis der LEO-Studie 2018 der Universität Hamburg gibt es über 6,2 Millionen Menschen zwischen 18 und 64 Jahren, die nicht ausreichend lesen und schreiben können (wobei Personen, die nicht gut genug Deutsch sprechen konnten, um an der Befragung teilzunehmen, in der Studie nicht erfasst wurden). Darüber hinaus gibt es über zehn Millionen Menschen, die nur langsam und/oder fehlerhaft schreiben können.

Mehr Informationen zu den Zahlen und dem Projekt des DGB-Bildungswerks: www.dgb-mento.de/mento/daten-und-fakten

 

Autor*in
Avatar
Vera Rosigkeit

hat Politikwissenschaft und Philosophie in Berlin studiert und ist Redakteurin beim vorwärts.

0 Kommentare
Noch keine Kommentare