Wenn die Massenmedien über Altersarmut in der Bundesrepublik berichten, wird der demografische Wandel oft zur Ursache dafür erklärt: Da die Geburtenrate sinke und gleichzeitig die Lebenserwartung der Menschen steige, heißt es, wüchsen nicht genügend Beitragszahler/innen nach, um die über einen immer längeren Zeitraum hinweg fälligen Altersrenten zu erwirtschaften.
Tatsächlich führt die Alterung der Gesellschaft dazu, dass es mehr Senior(inn)en gibt, die demografische Entwicklung ist aber keineswegs dafür verantwortlich, dass einer wachsenden Zahl von ihnen Armut droht. Dies beruht vielmehr auf einer Verteilungsschieflage, die ökonomisch bedingt und von politischen Entscheidungsträgern mit herbeigeführt worden ist. Genannt seien zwei Bereiche: der Arbeitsmarkt, dessen Deregulierung einen Niedriglohnsektor und prekäre Beschäftigungsverhältnisse hervorgebracht hat, einerseits sowie die Gesetzliche Rentenversicherung und der Sozialstaat andererseits, die demontiert bzw. teilprivatisiert wurden.
Höhe der Rente ist Frage der Ökonomie und Politik
Das aufgrund des Einbaus sog. Dämpfungsfaktoren („Riester-“, „Nachhaltigkeits-“ und „Nachholfaktor“) in die Rentenanpassungsformel seit der Jahrtausendwende bis 2030 sinkende Alterssicherungsniveau folgt keinem Naturgesetz, sondern ökonomischen Gesetzmäßigkeiten und politischen Entscheidungen. Die Altersstruktur einer Gesellschaft ist nicht ausschlaggebend, die Höhe der Rente also keine Frage der Biologie, sondern erstens eine Frage der Ökonomie (Wie viel Reichtum produziert die Gesellschaft?) und zweitens eine Frage der Politik (Wie wird dieser Reichtum auf die verschiedenen Schichten und Altersgruppen der Gesellschaft verteilt?).
Durch die Demografisierung, Biologisierung bzw. Naturalisierung des Sozialen geraten die eigentlichen Ursachen, die zu (mehr) Armut im Alter führen, aus dem Blickfeld. Dahinter stehen mächtige Interessengruppen, die von einer ideologischen Vernebelung der strukturellen Zusammenhänge und Hintergründe des Armutsproblems profitieren. Der lauter werdende Ruf nach „Generationengerechtigkeit“ lenkt vom wirklichen Problem ab. Denn die soziale Scheidelinie in unserem Land verläuft nicht zwischen Jung und Alt, sondern immer noch, ja mehr denn je zwischen Arm und Reich.
Einkommensstarke Gruppen in die Gesetzliche Rentenversicherung aufnehmen
Es kommt nicht auf die Größe der einzelnen Alterskohorten oder das Verhältnis der Generationen zueinander, sondern auf die gesellschaftliche Wertschöpfung an, und zwar zu dem Zeitpunkt, zu dem die Rente gezahlt werden muss. Daran würde ein Systemwechsel zum Kapitaldeckungsprinzip nichts ändern: Wenn sehr viele Ältere gleichzeitig in Rente gehen, fehlen Jüngere, die ihre Wertpapiere (zu hohen Kursen) kaufen könnten. Geld für die Altersvorsorge auf den Kapitalmärkten anzulegen, bedeutet nach den Erfahrungen mit der Finanzkrise, sie größeren Risiken auszusetzen, zumal die Gefahr der Bildung von Spekulationsblasen steigt, wenn riesige Pensionsfonds dort nach rentablen Anlagemöglichkeiten suchen.
Würde der Produktivitätszuwachs den Arbeitnehmer(inne)n nicht – wie das im vergangenen Jahrzehnt bei stagnierenden und teilweise sinkenden Realeinkommen der Fall war – weiter vorenthalten, sondern in Form steigender Löhne und Gehälter zugute kommen, könnten sie zusammen mit den Arbeitgebern, die wieder paritätisch an der Finanzierung des Rentensystems beteiligt werden müssten, dieses über moderat steigende Beiträge stabilisieren. Stattdessen wird ihnen eingeredet, der demografische Wandel erfordere entweder drastische Beitragserhöhungen und/oder radikale Rentenkürzungen. Hierbei handelt es sich um eine sozialpolitische Milchmädchenrechnung, die andere Handlungsmöglichkeiten ausblendet: Man könnte nicht beitragspflichtige, aber einkommensstarke Gruppen (Selbstständige, Freiberufler/innen, Beamte, Abgeordnete und Minister/innen) in die Gesetzliche Rentenversicherung aufnehmen und diese zu einer Erwerbstätigen- bzw. solidarischen Bürgerversicherung ausbauen, die Beitragsbemessungsgrenze an- oder aufheben und/oder den Bundeszuschuss erhöhen.
Info:
Christoph Butterwegge, Gerd Bosbach, Matthias W. Birkwald (Hg.): Armut im Alter. Probleme und Perspektiven der sozialen Sicherung. Campus-Verlag 2012, 280 Seiten; 19,90 Euro.
Michael Gottschalk
hat bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt und kürzlich das Buch „Die zerrissene Republik. Wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland“ veröffentlicht.