Deutsche Realität: Abstellgleis und Überholspur
Es sind nach wie vor die familiären Ausgangsbedingungen, die die Lebenseinstellung von Kindern und Jugendlichen prägen und über die Spielräume ihrer persönlichen Entfaltung entscheiden.
Sozial benachteiligten Eltern, die sich selbst so entwertet fühlen, fällt es schwerer, ihren Kindern ein Vorbild zu sein und sie aufzuwerten. Eltern, die es sich leisten können, versuchen mit
Nachdruck, Einfluss auf die Zukunftsplanungen ihrer Kinder zu nehmen. Der private Bildungsmarkt boomt. Erwartet werden Lernprogramme, die ein Leben lang für Vorsprung sorgen sollen.
Was für Kinder wachsen da heran?
Während die einen also von ihren Eltern schon früh auf die Überholspur gesetzt werden, geraten die anderen aufs Abstellgleis. Für die, die eine Chance in Aussicht gestellt bekommen,
bedeutet dies, die Chancen auch erfüllen zu müssen. Den anderen bleibt das Empfinden, nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems zu sein. Auf allen Kindern und Jugendlichen jedoch lastet
die Angst vor einer ungewissen Zukunft.
Chancengleichheit durch Bildung?
Unter dem Titel "Aufstieg durch Bildung" stellte die Bundesregierung Anfang dieses Jahres einen Maßnahmekatalog vor, mit dem die Bildungschancen aller erhöht werden sollen. Im Herbst 2008
wollen Bund und Länder auf einem Bildungsgipfel gemeinsam eine "Qualifizierungsinitiative für Deutschland" verabschieden. Karrieren sollen zukünftig im Kopf entschieden und soziale Bruchstellen
dadurch gekittet werden.
Der Begriff Chance bei der Frage nach Gleichheit setzt jedoch logisch voraus, dass nicht alle das Ziel erreichen können. Nur dort, wo viele andere nicht aufsteigen, kann es einen Aufstieg
geben. Kinder und Jugendliche sind demnach auf dem Weg ins Erwerbsleben auch mit dem Risiko konfrontiert, eventuell zu "scheitern".
Chancengleichheit durch Bildung möglich?
Auch bei der Formel "Chancengleichheit durch Bildung" ist Skepsis angebracht: Bildung bei Kindern und Jugendlichen findet außerhalb des Arbeitsmarktes statt. Gleichzeitig bleiben der
soziale Status und die Lebenschancen des Einzelnen an die Bedingungen einer gewinnorientierten Wirtschaft gebunden. Die Formel "Chancengleichheit durch Bildung" lässt sich damit bestenfalls nur
außerhalb des (Arbeits-)Marktprozesses realisieren.
Eine Bildungsreform, die auf eine strukturelle Verbesserung im sozialen Gefüge zielt, verlangt gleichzeitig eine Debatte über den Umgang mit den Unsicherheiten einer modernen,
ergebnisoffenen Arbeitswelt - ohne jeden ideologischen Krampf.
Thomas Bibisidis ist Politikwissenschaftler und Doktorand am Forschungsinstitut für Politische Wissenschaft und Europäische Fragen in Köln, freier Autor und freier Dozent für politische
Bildung.
Buchtipps zum Thema:
Carlo Schulz: Alle guten Dinge sind eins.
Schluss mit Auslese - Fördern ist Trumpf
Bruno Preisendörfer: Das Bildungsprivileg. Warum Chancengleichheit unerwünscht ist.
"Irgendwie ungerecht"
Ernst Rösner: Hauptschule am Ende. Ein Nachruf.
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