Im Juli 1889 beschließen Delegierte aus aller Welt auf dem ersten Internationalen Sozialistenkongress, am 1. Mai 1890 die Veranstaltung "einer großen, einheitlichen Manifestation der Arbeiter
aller Länder" für den Achtstundentag. Der 1. Mai wird aus Solidarität mit der amerikanischen Arbeiterbewegung gewählt. In den USA wurden Arbeitsverträge meist zum 1. Mai, dem "Moving Day"
erneuert. 1886 war es in Chicago dabei im Zusammenhang mit der von den Gewerkschaften getragenen "Achtstunden-Bewegung" zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit Toten gekommen. Die Justiz
reagierte mit Todesurteilen gegen angebliche Rädelsführer.
Der Beschluss des Internationalen Sozialistenkongresses berücksichtigt die sehr verschiedenen organisatorischen und rechtlichen Voraussetzungen in den einzelnen Ländern: "In jedem Land
sollen die Arbeiter die Manifestation in der Weise veranstalten, welche die Gesetze und Verhältnisse daselbst bedingten, beziehungsweise ermöglichen." Was das für die damals noch recht junge
organisierte Arbeiterbewegung bedeutete und wie sich das in den 120 Jahren seit der ersten Maifeier in den verschiedenen Ländern entwickelte, wird in dem Buch zum 1. Mai in vielfältigen
Beiträgen, Zeitzeugenberichten, Bildern und Dokumenten eindrucksvoll ausgebreitet.
Der 1. Mai 1890 in Wien
Welch Wagnis 1890 die Organisation und Durchführung der 1. Mai-Feier darstellte, schildert Victor Adler, der Parteigründer der österreichischen Sozialdemokraten in seinen Erinnerungen:
"Mein erster Mai". Adler war es erst ein Jahr zuvor gelungen, auf dem Einigungsparteitag in Hainfeld die zersplitterte Arbeiterbewegung zu einer geschlossenen Partei und zu einem rasch wachsenden
politischen Faktor zu formen. Mitten in den Vorbereitungen muss er - schon ein Jahr zuvor wegen "anarchistischer Bestrebungen" zu einer Gefängnisstrafe verurteilt - die Haft antreten.
In seiner Erinnerung an den ersten Mai schildert er seine gespannte Sorge um einen friedlichen Verlauf des Tages. Denn in den Tagen davor war in Wien fast eine Revolutionspsychose
ausgebrochen. Die bürgerliche "Neue Freie Presse" berichtet am Vorabend des 1. Mai: "Die Soldaten sind in Bereitschaft, die Tore der Häuser werden geschlossen, in den Wohnungen wird Proviant
vorbereitet wie vor einer Belagerung, die Geschäfte sind verödet, Frauen und Kinder wagen sich nicht auf die Gasse, auf allen Gemüthern lastet der Druck einer schweren Sorge. Das ist die
Physiognomie unserer Stadt am Festtage der Arbeiter."
Doch die Arbeiterschaft lässt sich von der hysterischen Stimmung nicht anstecken. Zehntausende von Arbeitern strömen am Vormittag in die rund sechzig Versammlungen, auf denen Resolutionen
zum Achtstundentag diskutiert werden. Nachmittags zieht der "Zug der Hunderttausend" diszipliniert von tausend sozialdemokratischen Ordnern begleitet zum Maifest im Prater. Die "Neue Freie
Presse" schreibt tags darauf anerkennend, dass "man von diesen Männern der Arbeit lernen könnte, wie man eine politische Demonstration mit Anstand und Achtung vor dem Gesetz vollführt". Mit
diesem ersten Mai 1890 erhält die österreichische Sozialdemokratie einen ungeheuren Impuls, der bis heute weiter wirkt.
Der Tag der Arbeit ist international
Natürlich ist auch die internationale Dimension des 1. Mai ein zentraler Aspekt der Publikation. Von Großbritannien in der Frühzeit und in der Ära Thatcher über Dänemark, die
Ostblockstaaten, Ost- und West-Berlin, Frankreich spannt sich der Bogen; im Beitrag über die USA etwa geht der Autor der spannenden Frage nach, warum es ausgerechnet dort - wo die Bewegung
eigentlich ihren Anfang nahm - "in den Vereinigten Staaten keinen Ersten Mai gibt".
Neben den historischen und internationalen Aspekten bietet der Band mit seinen vielen Abbildungen von Mai-Zeitungen, Mai-Plakaten und den besonders in Österreich hoch entwickelten und
verfeinerten Mai-Abzeichen auch einen spannenden Einblick in die Arbeiterkultur im Kontext der sie umgebenden Gesellschaft. Gründerzeit, Jugendstil, Expressionismus, Art Deco - alles wird von der
Arbeiterkultur aufgenommen und sich anverwandelt.
Zukunft der Maiaufmärsche
Vor diesem Traditionshintergrund überrascht es ein wenig, dass auch in der österreichischen Sozialdemokratie 1960 kurz die Diskussion aufflackert: "Hat der Maiaufmarsch noch einen Sinn?"
Unter diesen Titel stellt ein Autor einen Beitrag für die "Zukunft", damals noch mit dem Untertitel "Sozialistische Monatsschrift für Politik, Wirtschaft und Kultur". Er fordert "Mehr Farbe, mehr
Stimmung, mehr Abwechslung" und schlägt unter anderem vor, "Filmstars … als Gäste auf die Tribüne einzuladen". Die Redaktion wird daraufhin mit Leserbriefen überschwemmt, die sich ausschließlich
für die Beibehaltung des Maiaufzugs aussprechen.
Ein halbes Jahrhundert später gibt es den Aufmarsch der Wiener Sozialdemokraten immer noch, niemand würde es heute auch nur wagen, die Frage nach der Sinnhaftigkeit ernsthaft zu stellen. Das
Buch zeichnet denn auch sorgfältig die Traditionslinie bis in die Gegenwart fort und nimmt auch die Diskussion um neue Formen am Rand oder außerhalb der organisierten Arbeiterbewegung auf, etwa
die "EuroMayDay-Paraden der Prekären", die sich aus transnationalen Netzwerken von Menschen in prekären Arbeits- und Lebenssituationen rekrutieren.
Phänomen Massenaufmarsch
"Aufgrund ihrer besonderen Tradition von Kontinuität, Massenteilnahme und öffentlicher Inszenierung sind wesentliche Aspekte des Buches der Wiener Maifeier gewidmet", schreiben die
Herausgeber im Vorwort. Das ist kein Nachteil, im Gegenteil, das könnte das Buch auch für die deutsche Sozialdemokraten und Gewerkschafter besonders interessant machen. Denn noch immer gelingt
es, zum 1. Mai in Wien gut 100 000 Menschen zu einer Veranstaltung zu mobilisieren, die - anders als in Deutschland - unter der Regie der sozialdemokratischen Partei und nicht der Gewerkschaft
steht.
Im Vorwort zitieren die Autoren einen "mittlerweile legendären Wiener Stadtführer aus dem Jahr 1962". Dort war zu lesen: "Seit Jahren und Jahrzehnten wird nun diese Wiener Maidemonstration von
deren Gegnern und ihrer Presse zu Tode geschrieben, wird gespottet, verächtlich oder madig gemacht. Was kümmert's die Wiener, die haben ihr Fest und können so nebenbei auch zeigen, wer da der
Herr im eigenen Haus ist."
Eine Ausstellung
Und wer zufällig gerade in Wien ist: Bis zum 12. September 2010 läuft im Österreichischen Museum für Volkskunde, Laudongasse 15-19, 1080 Wien noch parallel zu dem Buch die Ausstellung "Der
1. Mai - Demonstration. Tradition. Repräsentation." mit zum Teil noch nie gezeigten Foto- und Filmaufnahmen vom 1. Mai.
Wolfgang Maderthaner, Michaela Maier (Hg.): "Acht Stunden aber wollen wir Mensch sein. Der 1. Mai. Geschichte und Geschichten", edition rot, Wien, 2010, 285 Seiten, 55 Euro, ISBN 978-3901485985
ist Mitarbeiter der vorwärts-Redaktion, Geschäftsführer a. D. des vorwärts-Verlags und ehemaliger Landesgeschäftsführer der SPD Hamburg.