Abschiebung nach Afghanistan: Warum die Union nichts aus dem Terror lernt
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Für CDU und CSU muss oft erst eine Katastrophe eintreten, bevor die beiden Schwesterparteien etwas dazulernen. Das beste Beispiel ist der Atomausstieg: Lange Zeit stemmten sich die Konservativen verbissen gegen den Abschied von der Kernkraft, den Rot-Grün im Jahr 2000 beschlossen hatte. Erst nach dem Nuklearunglück im japanischen Fukushima lenkte Kanzlerin Angela Merkel 2011 ein – und ordnete das endgültige Aus der deutschen Atomkraft an. Damit die Union etwas dazulernt, bedarf es mitunter einer echten Jahrhundertkatastrophe.
Union: 90 Tote und kein bisschen weiser
Mindestens 90 tote und über 400 verletzte Menschen scheinen hingegen nicht auszureichen, damit sich in den Reihen von CDU und CSU ein Lerneffekt einstellt. Dies zeigt das Bombenattentat von Mittwochmorgen im Diplomatenviertel von Kabul: Der Anschlag, der die Fassade der deutschen Botschaft völlig zerstört und mindestens zwei Mitarbeitern das Leben gekostet hat, scheint Unionspolitiker wie Thomas de Maizière oder Angela Merkel nicht weiter zu beeindrucken. Nach wie vor behaupten sie steif und fest, Afghanistan sei sicher genug, um abgelehnte Asylbewerber dorthin abzuschieben – auch wenn dort selbst der Alltag gut bewachter Diplomaten lebensgefährlich ist.
Zwar sagte Bundesinnenminister Thomas de Maizière nach dem Anschlag einen Charterflug ab, der am Mittwoch zum sechsten Mal ausreisepflichtige Afghanen nach Kabul bringen sollte. Der Grund dafür war jedoch nicht die Sorge um Menschenleben. Nein, in der Botschaft, die derzeit zur Hälfte in Schutt und Asche liegt, gebe es im Moment Wichtigeres zu tun als die geplanten Abschiebungen, sagte de Maizière. Aber sobald die Trümmer auf die Seite geräumt, die zerfetzten Körperteile eingesammelt und die Toten unter der Erde sind, soll der Flug mit ein paar Dutzend abgelehnten Asylbewerbern nach dem Willen des CDU-Ministers sofort nachgeholt werden.
Jenseits der Fakten: Die Union betreibt das Geschäft der AfD
Beharrlich verweisen Unionspolitiker bis hin zu Kanzlerin Merkel darauf, wie sicher es im Bürgerkriegsland Afghanistan doch sei. Und das obwohl nicht erst seit dem Anschlag von Mittwoch aus Berichten des Auswärtigen Amts oder der Vereinten Nationen das genaue Gegenteil bekannt ist. In der Asylpolitik sind CDU und CSU damit endgültig in das Geschäft der Rechtspopulisten eingestiegen: das Aufstellen pauschaler, oft abwegiger Behauptungen – trotz eindeutiger Gegenbelege und fernab der Faktenlage. So sind Geflüchtete für die AfD und ihre Anhänger „Invasoren“, die Bundeskanzlerin eine „Diktatorin“ und die SPD die „Scharia Partei Deutschlands“ – für die Union ist Afghanistan ein „sicheres Land“.
Dies bringt nicht nur Menschenrechtsaktivisten, sondern inzwischen auch eine Reihe von SPD-Politikern auf die Palme. Zu Recht. „Es reicht“, schrieb etwa die Vorsitzende der Bayern-SPD, Natascha Kohnen, auf Facebook und forderte einen sofortigen Abschiebestopp nach Afghanistan. Auch SPD-Chef und Kanzlerkandidat Martin Schulz sagte am Donnerstag in Berlin, es dürfe bis auf weiteres keine Abschiebungen mehr in das Bürgerkriegsland geben.
CDU und CSU wollen davon aber nichts wissen. Sie machen weiter mit ihrer Rhetorik, setzen auf rücksichtloses Abschieben, um der AfD in Sachen rechte Stimmungsmache nicht das Feld zu überlassen. So eingeschüchtert sind Thomas de Maizière und seine Parteifreunde von den Rechtspopulisten, dass sie der AfD inzwischen die Wünsche von den Augen ablesen – auch wenn der Wunsch darin besteht, wehrlose Menschen in ein Kriegsgebiet ausweisen zu lassen.
Update (Freitag, 2. Juni 2017, 11:08 Uhr): Am Donnerstagabend hat die Bundesregierung beschlossen, die Abschiebungen nach Afghanistan weitgehend auszusetzen. Auf Initiative von Bundesaußenminister Sigmar Gabriel (SPD) will die Bundesregierung zunächst den nächsten Lagebericht des Auswärtigen Amts abwarten, bis über das weitere Vorgehen entschieden wird. Bis dahin sollen nur straffällig gewordene Asylbewerber und sogenannte Gefährder nach Afghanistan abgeschoben werden. Ein Beschluss für einen generellen Abschiebestopp wurde nicht gefasst.
ist promovierter Sprachwissenschaftler und war bis Mai 2018 Redakteur beim vorwärts.