Abhörskandal: Wie die NSA den BND missbrauchte
Erst das Handy der Bundeskanzlerin, nun mindestens drei deutsche Ministerien und Einzelpersonen aus anderen sensiblen Bereichen: Neue Wikileaks-Enthüllungen zeigen, dass der amerikanische Geheimdienst NSA deutlich mehr sogenannte Selektoren ausspähen ließ als bislang bekannt. Dass davon auch drei französische Ministerpräsidenten sowie die Europäische Zentralbank betroffen waren, mag einige hierzulande trösten. Gleichzeitig belegt es die Verselbstständigung, welche das Vorgehen der NSA zwischen den Jahren 2010 und 2012 prägte. Doch auch auf deutscher Seite wurden Fehler gemacht.
BND als willfähriger Handlanger der NSA?
„Im BND gab es über Jahre hinweg ein massives Problem bei der Prüfung der Selektoren“, kritisiert Christian Flisek, SPD-Obmann im NSA-Untersuchungsausschuss. „Selektoren“ ist das Wort, über das seit Bekanntwerden der Affäre wohl am meisten gesprochen wird. Gemeint sind damit Suchbegriffe wie E-Mail-Adressen oder Telefonnummern, die der US-Geheimdienst den deutschen Kollegen lieferte und die vom Bundesnachrichtendienst in seine weltweite Überwachungsmaschinerie eingespeist wurden. Dieser Vorgang ist durchaus gewollt: Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 schlossen Bundes- und US-Regierung einen Vertrag, das sogenannte Memorandum of Agreement. Darin wurde festgelegt, dass der BND in Bad Aibling im Auftrag der NSA die Satellitenkommunikation in Krisengebieten im Nahen Osten wie Afghanistan oder Somalia überwacht. Die Bedingung: Deutsche Ziele sowie Ziele, die europäische Wirtschaftsinteressen berühren, sind tabu. Wie die Enthüllungen der vergangenen Tage und Wochen zeigen, hat die NSA diese Auflage bei der Übermittlung der Selektoren geflissentlich ignoriert. Den deutschen Kollegen scheint dies lange nicht aufgefallen zu sein. „Bei der Selektorenprüfung sind dem BND zahlreiche Fehler unterlaufen“, sagt SPD-Obmann Flisek.
BND-Angestellte mit widersprüchlichen Aussagen
Strittig sind vor allem zwei Punkte: Zum einen versucht der Ausschuss herauszufinden, wer beim BND wann wusste, dass sich die Amerikaner nicht an die Vereinbarung halten und verbotene Selektoren an den deutschen Geheimdienst lieferten. Der Leiter der Abteilung Technische Aufklärung des BND, Hartmut Pauland, etwa gab bei seiner Befragung an, erst „am 13. März um 22.45 Uhr“ von auffälligen Selektoren erfahren zu haben – also erst vor wenigen Monaten. Ein Unterabteilungsleiter hatte zuvor in seiner Befragung ausgesagt, dass bereits nach den Veröffentlichungen von Edward Snowden im Jahr 2013 eine umfangreiche Prüfung der Selektoren vorgenommen worden sei, bei der es zahlreiche Auffälligkeiten gegeben habe. Auf die Frage, warum er die BND-Spitze nicht informiert hätte, berief sich dieser auf sein Zeugnisverweigerungsrecht. „Innerhalb des BND gibt es keine Fehlerkultur“, moniert Christian Flisek. „Stattdessen gab es Strukturen, die dazu geführt haben, dass Missstände über Jahre hinweg unter den Teppich einer Unterabteilung gekehrt werden konnten.“ Das hinterlasse „einen fatalen Eindruck“.
Wer darf die Selektoren sehen?
Die zweite Frage, die das politische Berlin brennend interessiert, ist, welche Personen und Einrichtungen unerlaubterweise überwacht wurden. Zwar stehen einige von ihnen auf einer „Selektorenliste“, die Wikileaks am Mittwoch auszugsweise veröffentlichte. Die gesamte Liste mit ihren angeblich knapp 40000 Datensätzen aber liegt im Kanzleramt, da der Kanzleramtsminister oberster Dienstherr des BND ist. Um den Einblick in die Liste war bereits kurz nach ihrem Bekanntwerden ein erbitterter Kampf entbrannt. „Es ist unabdingbar, dass wir als Untersuchungsausschuss Kenntnis vom Inhalt der Selektorenliste erlangen“, forderte Christian Flisek damals. Nur so könnten sich die Abgeordneten ein Bild vom Ausmaß der Affäre machen. Doch das Bundeskanzleramt blockte. Die Selektorenliste ist Eigentum der USA. Es gibt eine Vereinbarung, dass das Kanzleramt derart sensibles Material nicht herausgeben darf, ohne die Regierung der Vereinigten Staaten zu konsultieren. Diese wiederum hatten laut Medienberichten erklären lassen, einem Einblick in die Selektorenlisten nicht zustimmen zu wollen, auch nicht gegenüber einem einzelnen Sonderermittler.
Christian Flisek zeigte dafür Verständnis. „Die Regierung muss eine souveräne Entscheidung treffen, bei der sie zwischen dem Aufklärungsinteresse des Parlaments und dem Staatswohl – in diesem Fall der guten Zusammenarbeit der Geheimdienste – abwägt.“ Allerdings stellte der Abgeordnete auch klar: „Im US-Parlament würde es niemand akzeptieren, dass die amerikanische Regierung deutsche Dokumente nicht vorlegt, nur weil die Bundesregierung das nicht möchte.“
Ausschuss stimmt für SPD-Mitglied als Sonderbeauftragten
Klar ist mittlerweile, wer nach dem Willen der Mehrheit im NSA-Untersuchungsausschuss zum Sonderermittler in Sachen Selektorenliste ernannt wird. Die sechs Abgeordneten aus den Reihen der Regierungsfraktionen von CDU/CSU und SPD einigten sich am Donnerstag auf Kurt Graulich, SPD-Mitglied seit 1970 und pensionierter Richter am Bundesverwaltungsgericht. Er soll nun dem Kanzleramt vorgeschlagen werden. Dieses wiederum habe laut Flisek bereits im Vorfeld die Annahme des Ausschuss-Kandidaten zugesagt.
Die Vertreter der Opposition im Ausschuss kündigten eine Klage gegen die Ernennung Graulichs in Karlsruhe an. Diese wird nach Medienberichten bereits vorbereitet und soll während der parlamentarischen Sommerpause beim Bundesverfassungsgericht eingereicht werden. Nicht zuletzt deshalb und aufgrund der ständigen Möglichkeit neuer Wikileaks-Enthüllungen dürften die kommenden Tage und Wochen in Berlin spannend bleiben.
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.