Inland

Abgeholt aus der Opferrolle: Warum viele Deutsch-Türken anfällig für Erdoğans Parolen sind

Seit einigen Wochen werben türkische Politiker auch in Deutschland für ein „Ja“ beim Verfassungsreferendum am 16. April. Bei vielen Deutsch-Türken treffen sie auf offene Ohren. Warum eigentlich?
von Werner Felten · 20. März 2017
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Ein russischer Kollege fragte mich mal, ob ich den Unterschied zwischen den Türken und den Russen in Deutschland kennen würde. Die Türken in Deutschland, meinte er, lieben ihre Heimat und träumen davon wieder in die Türkei zurück zu kehren. Bei den Russen in Deutschland sei das anders, die seien froh, dass sie hier seien und wollen nie mehr nach Russland zurück. Ob das mit den Russen stimmt, kann ich nicht beurteilen, aber die glühende Liebe zur Türkei ist bei vielen Deutsch-Türken unübersehbar. Obwohl sie seit Jahrzehnten in Deutschland leben, hat die Heimat sie nicht losgelassen und sie die Heimat nicht.

Ausgrenzung aus der Mehrheitsgesellschaft

Viele von ihnen haben Familienangehörige in der Türkei, Unmengen von türkischen Satellitenprogramme, die mittlerweile von Erdogan gleichgeschaltet wurden, bestrahlen die türkischen Haushalte in Deutschland. Drei Flugstunden Entfernung schaffen eine regionale Nähe und sie besitzen die türkische Staatsbürgerschaft. Diese führt sie in die Konsulate ihres Heimatslandes und Wahlen weisen sie immer wieder daraufhin, dass sie Türken sind. Und nicht nur die, auch die deutsche mediale Öffentlichkeit, das soziale Umfeld und die Ausgrenzung aus der Mehrheitsgesellschaft zwingen die Deutsch-Türken sich mit der Politik in ihrem Heimatland auseinanderzusetzen.

Viele Türken in Deutschland fühlen sich in einer Opferrolle, die ihnen die Deutschen seit Jahrzehnten zugewiesen haben. Besonders boshaft ist die gutgemeinte Ausgrenzung, von der der deutsche Innenminister Thomas de Maizière vor kurzem eine Kostprobe gab, als er einen türkischstämmigen Mann, der seit 44 Jahren in Berlin wohnt und in Deutschland Abitur gemacht hat, lobte, dass er gut Deutsch spreche. So ein Satz in einer Talkshow machen 25 Jahre sogenannte Integrationspolitik zunichte. Wenn man sich über Jahrzehnte von Menschen abwendet, darf man sich nicht wundern, wenn viele von ihnen sich anderen zuwenden.

Ein Keil in der türkischen Community

Einige Türken in Deutschland nutzen die Rolle als Verlierer, aber auch dafür ihrem eigenen Scheitern, sei es im Beruf, wirtschaftlich oder im gesellschaftlichen Umfeld, ein Alibi zu geben. Seht her ich bin nicht schuld, die Deutschen sind schuld! Diese Menschen sind besonders anfällig für einen Messias, einen großen Führer, der ihnen etwas verspricht, von dem sie gar nicht wissen, was es eigentlich sein soll. Und die Vertreter der AKP in der Türkei nehmen ihre Landsleute in Deutschland nicht nur wahr, sondern sie versuchen sie an der kurzen Leine zu führen, versuchen ihr autoritäres System, das sie in der Türkei errichtet haben, auch in Deutschland einzuführen, zerstören dabei gewachsene Strukturen zwischen den verschiedenen Volksgruppen aus der Türkei, die in Deutschland seit 60 Jahren leben. Damit treiben sie einen Keil in die türkische Community.

Die Emotionalität spielt dabei eine herausragende Rolle und dient als Scharnier, um die Begeisterung der in Deutschland lebenden Türken zu gewinnen. Das gesprochene Wort hat in der türkischen Kultur einen wesentlich höheren Stellenwert als das geschriebene. Erdogan und seine Kollegen spielen diese Klaviatur perfekt. Sie kompensieren den Minderwertigkeitskomplex der Türken in Deutschland mit markigen, populistischen Worten und spielen die Beleidigten, wenn die deutsche Politik zur Kritik anstimmt.

Größenwahn trifft auf Minderwertigkeitskomplex

Der Hinweis auf die Größe und Wichtigkeit der Türkei im aktuellen Weltgeschehen, begeistert viele Türken in Deutschland. Erdogan gebiert sich als der Retter des wahren Türkentums. Stolz, Ehre und Vaterland, diese schwammigen Begriffe, sind die Grundfesten der Propaganda Erdogans. Um diese sogenannten Werte fühlen sich viele Türken in Deutschland betrogen. Für die deutsche Mehrheitsgesellschaft schwer nachzuvollziehen, weil die Bergriffe Stolz, Ehre und Vaterland für sie einen fauligen Geschmack besitzen. Die Bedeutung der Türkei in der Welt wird von Erdogan wie ein Mantra ständig wiederholt und so ins Lächerliche verzerrt. Seine Anhänger und nicht nur in Deutschland berauschen sich an diesem Größenwahn und merken gar nicht, dass sie sich eigentlich zum Gespött machen. Größenwahn trifft auf Minderwertigkeitskomplex: Eine fatale Mischung.

Autor*in
Werner Felten

ist Autor des Buchs „Allein unter Türken“ und war acht Jahre bei Metropol FM als einziger Deutscher unter türkischen Mitarbeitern Geschäftsführer und Programmdirektor.

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