Parteileben

Wie ein Ortsverein im Harz die Erinnerung an Nazi-Opfer wachhält

Im Spätsommer 1944 verschleppte die Gestapo 46 Kinder von Widerstandskämpfer*innen aus der Gruppe um Stauffenberg nach Bad Sachsa in den Harz. Die dortige SPD erinnert heute an die NS-Opfer.
von Kai Doering · 16. Dezember 2021
Geschichtsbewusst: Mitglieder des SPD-Ortsvereins Bad Sachsa um Carsten Georg (2. v. r.) und Ralph Boehm (r.)
Geschichtsbewusst: Mitglieder des SPD-Ortsvereins Bad Sachsa um Carsten Georg (2. v. r.) und Ralph Boehm (r.)

Zwischen August und September 1944 geschah Grausames in Bad Sachsa: Die Gestapo brachte 46 Kinder in die Kleinstadt im Harz. Ihre Eltern waren in das Bombenattentat von Claus Schenk Graf von Stauffenberg auf Adolf Hitler am 20. Juli verstrickt. Während die Widerstandskämpfer*innen hingerichtet wurden, kamen ihre Kinder in Sippenhaft, um weitere Widerstandskämpfer*innen zu erfahren. Die Kinder erhielten neue Namen und sollten später in Adoptivfamilien aufwachsen. Die amerikanische Armee setzte dem im Frühjahr 1945 ein Ende. Der von ihr als kommissarischer Bürgermeister eingesetzte Sozialdemokrat Willi Müller stellte die Kinder unter seinen persönlichen Schutz.

„Vergangenheit macht uns sensibel für die Zukunft“

Dass heute in Bad Sachsa eine Dauerausstellung an die Kinder erinnert, ist nicht unbedingt eine Selbstverständlichkeit. „Die NS-Geschichte ist hier lange nicht groß in der Schule thematisiert worden“, berichtet Carsten Georg. Er ist in Bad Sachsa aufgewachsen und seit sechs Jahren Vorsitzender des SPD-Ortsvereins. Die Nazis hätten hier am Südrand des Harzes schnell Sympathisant*innen gefunden, berichtet Georg. Die NSDAP hatte in der Stadt ein Schulungszentrum. Ab 1944 wurden die V1- und V2-Raketen im nahen Nordhausen, im KZ Mittelbau Dora und den Außenlagern, gebaut. „Diese Vergangenheit macht uns sensibel für die Zukunft“, sagt der OV-Vorsitzende. Das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus sei heute ebenso ein „Kernanliegen“ der SPD wie der Kampf gegen rechts und für eine vielfältige und tolerante Gesellschaft.

Der Ortsverein hat deshalb im Stadtrat die Verlegung von vier „Stolpersteinen“ initiiert. Der Künstler Günter Demnig setzt die knapp zehn mal zehn Zentimeter großen Messingsteine in den Gehweg vor dem letzten frei gewählten Wohnort eines Opfers der NS-Zeit ein. Mehr als 75.000 Steine gibt es bereits in 26 Ländern, in Bad Sachsa bisher jedoch keinen.

Vier NS-Opfer recherchiert

„Das ist ein ambitioniertes Projekt“, sagt Ralph Boehm. Er ist ehrenamtlicher Stadtarchivar von Bad Sachsa und Mitglied des Ortsvereins. So fiel ihm die Aufgabe zu, NS-Opfer und ihre Hintergründe zu recherchieren, für die ein Stolperstein gesetzt werden könnte. Schließlich kamen vier Personen infrage: neben einer „Halbjüdin“ und einem Juristen mit jüdischen Wurzeln auch ein KPD-Mitglied und eines des „Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold“. „Reichsbanner-Mitglied Adolph Klapproth kam wahrscheinlich gerade von einer SPD-Veranstaltung, als er von der SA angeschossen wurde und ein paar Tage später an seinen Verletzungen starb“, weiß Ralph Boehm zu berichten.

Klapproths Name findet sich wie der der anderen drei NS-Opfer bereits auf einem Gedenkstein auf dem Friedhof von Bad Sachsa. „Den hat Willi Müller auf eigene Kosten aufstellen lassen, weil die Stadt damals nicht mitziehen wollte“, erklärt Boehm – auch das ein Zeichen, dass sich Bad Sachsa mit der eigenen Geschichte nicht immer leichtgetan hat.

SPD knüpft an antifaschistische Tradition an

Die geplante Verlegung der Stolpersteine dagegen sei im Ort gut angekommen, berichtet Carsten Georg. Einstimmig wurde der Beschluss im Stadtrat gefasst. Für die Material- und Verlegekosten von 120 Euro pro Stein wurden Spender*innen gefunden. Am 16. Februar sollen die Steine voraussichtlich platziert werden. Ralph Boehm konnte sogar Angehörige der vier NS-Opfer ermitteln, die dann dabei sein wollen. Wichtig war dem Ortsverein auch, dass die Schulen vor Ort in das Projekt mit einbezogen werden. „Die Verlegung und die Pflege der Stolpersteine sollen ein Projekt aller Menschen in Bad Sachsa sein“, wünscht sich Carsten Georg. „Die Kinder und Jugendlichen sollten die Geschichte ihrer Heimatstadt kennen“, findet er. Vielleicht helfe das auch, sie immun zu machen gegen die neuen Gefahren von rechts.

In jedem Fall knüpfe die SPD in Bad Sachsa mit der Verlegung der Stolpersteine an ihre antifaschistische Geschichte an, die der ehemalige Bürgermeister und Stadtdirektor Willi Müller maßgeblich geprägt hat. „Dieses Andenken“, ist Carsten Georg sicher, „wird durch die Stolperstein-Initiative sinnvoll ergänzt.“

Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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