Breymaier oder Castellucci? Ein Streitgespräch um den SPD-Landesvorsitz
Dirk Bleicker
Lars Castellucci, die SPD steht bundesweit in Umfragen bei 13 Prozent, in Baden-Württemberg bei elf Prozent. Was ist trotzdem gut gelaufen in den vergangenen beiden Jahren im Landesvorstand?
Lars Castellucci: Der Start machte Hoffnung auf einen Neuanfang, aber wenn wir jetzt gerade eine Umfrage in Baden-Württemberg hätten, wäre die SPD wahrscheinlich einstellig. Wir haben die Kehrtwende nach dem Debakel bei der letzten Landtagswahl nicht geschafft. Deswegen muss sich etwas ändern.
Leni Breymaier, Lars Castellucci war in den vergangenen beiden Jahren Ihr Stellvertreter. Was schätzen Sie an ihm?
Leni Breymaier: Er ist ein freundlicher Zeitgenosse. Ich schätze ihn wegen seiner inhaltlichen Expertise beim Thema Migration und Geflüchtete.
Bei der Landtagswahl 2001 hat die SPD 33 Prozent der Stimmen geholt, inzwischen steht sie bei elf Prozent. Wie wollen Sie die verloren gegangenen Wähler zurückgewinnen?
Breymaier: Zwischen 2011 und 2016 haben wir uns fast halbiert, auch von der Anzahl der Abgeordneten. Das war der große Absturz. Wir können wieder gute Ergebnisse einfahren, wenn wir aufhören, es immer allen recht machen zu wollen. Ich glaube nicht, dass uns das vorwärts bringt. Wir dürfen zuspitzen, polarisieren und auch mal einen Teil der Leute vor den Kopf stoßen, wenn wir zum Ausdruck bringen, dass wir eine Haltung haben. Beim Thema Diesel können wir nicht gleichzeitig der Automobilindustrie, den Pendlern und den Anwohnern gerecht werden. Das geht einfach nicht. Wir müssen uns trauen, klare Positionen zu beziehen.
Lars Castellucci, wie wollen Sie verloren gegangene Wähler zurückgewinnen?
Castellucci: Der SPD fehlt es nicht an Themen. Der SPD fehlt es an Richtung. Wir müssen den Leuten wieder sagen, wohin es mit der SPD gehen soll. Da dürfen wir uns nicht verengen. Ich möchte, dass wir als Volkspartei ein Angebot an die Breite der Gesellschaft machen. Die SPD zu erneuern darf keine reine Selbstbeschäftigung sein. Die Menschen müssen spüren, dass wir für sie da sind. Sozi ist man für andere. Deswegen möchte ich, dass die Partei raus geht zu den Leuten. Wir müssen radikal auf Tuchfühlung mit dem Land gehen. Ich möchte eine Partei, die sich zuerst nach außen orientiert, anstatt sich mit sich selbst zu beschäftigen.
Breymaier: Wir hatten im Jahr 2018 eine Wahl in Baden-Württemberg, das war die Oberbürgermeisterwahl in Freiburg. Die haben wir als SPD furios gewonnen. Ansonsten hatten wir verabredet, dass wir uns dieses Jahr Zeit für unsere Struktur und Programmatik nehmen. Da sind wir auf einem guten Weg.
In Baden-Württemberg läuft der Erneuerungsprozess seit zwei Jahren, bundesweit seit einem Jahr. Trotzdem scheint es der SPD mit Blick auf die Zustimmungswerte noch nichts zu bringen. Ist die Ungeduld zu groß?
Breymaier: Ja, wir beschäftigen uns viel mit uns selbst, denn wir haben verschiedene strukturelle Probleme. Beispielsweise haben wir 38 Bundestagswahlkreise, aber nur noch 16 Abgeordnete. Auf der Landesebene haben wir 70 Wahlkreise und 19 Abgeordnete. Es gibt Gegenden, die von keinem Abgeordneten vertreten werden. Deswegen ist es richtig, zu schauen, wie Landeslisten aufgestellt sind. Von den 19 Landtagsabgeordneten sind zwei Frauen. Es ist eine Pflicht der SPD Baden-Württemberg, uns mit der Frage zu beschäftigen, wie wir es schaffen, mehr Frauen und vor allem junge Frauen in den Landtag zu bekommen. Wie binden wir neue Mitglieder ein? Wie können wir kommunizieren? Wie stehen unsere Ortsvereine da? Wo wird aktiv gearbeitet? Wo stehen Fusionen an? Welche Unterstützung brauchen die? Wie können wir neue Medien nutzen? All das sind Themen, mit denen wir uns befasst haben.
Lars Castellucci, Sie haben gefordert, die Flügel der Partei auf Landesebene abzuschaffen. Was wäre der Vorteil davon?
Castellucci: Wir bündeln unsere Kräfte nicht genug. Die Frage der Flügel hängt damit zusammen. Die SPD hatte bundesweit einmal mehr als eine Million Mitglieder, heute sind wir etwa 460.000. Gleichzeitig haben wir uns aufgeteilt in unglaublich viele Gruppen. Das lähmt uns wie im ganzen Land: Vielfalt ist gut, gleichzeitig brauchen wir mehr Zusammenhalt. Deswegen möchte ich die Arbeit auf konkrete gemeinsame Ziele hin orientieren. Diese interne Aufspalterei zieht uns runter.
Wenn es gelänge, die Flügel abzuschaffen, welche Inhalte würden Sie vorantreiben wollen?
Castellucci: In Berlin machen wir in jeder Sitzungswoche gute Gesetzesinitiativen, aber offenbar hören uns die Leute nicht mehr zu. Das möchte ich durchbrechen, indem wir einen Neustart machen und den Leuten wieder ein Bild vermitteln von einer guten Zukunft, in die es mit der SPD gehen kann. Von Willy Brandts Entspannungspolitik war auch nicht jeder von Anfang an überzeugt, aber die Partei hatte eine klare Haltung und ein klares Bild von der Zukunft. Aus dieser Haltung heraus hat sie Selbstbewusstsein entwickelt und damit überzeugt. Diesen Entwurf möchte ich vorlegen und im Land diskutieren. Es geht darum, wo die Arbeitsplätze der Zukunft sind. Es geht um die Frage der Lebensqualität in allen Teilen des Landes. Der gesellschaftliche Zusammenhalt im Land ist unter Druck. Die Leute gehen lieber ins Fitnessstudio, als in Vereinen Verantwortung zu übernehmen. Deswegen müssen wir massiv ins Ehrenamt und in freiwilliges Engagement investieren. Beispielsweise könnten wir ein Ehrenamtsjahr einführen. Diese Zeit können die Menschen nutzen, um sich für das Gemeinwohl einzubringen. Das sind Fragestellungen, die das Land Baden-Württemberg betreffen, aber ich möchte, dass die SPD in Baden-Württemberg auch wieder Ideenfabrik für den Bund ist.
Leni Breymaier, Sie haben gesagt, dass die Erneuerung der SPD in Baden-Württemberg noch nicht abgeschlossen ist. An welchen Punkten würden Sie gerne weiterarbeiten?
Breymaier: Wir haben mit strukturellen Projekten begonnen, von denen auch die Bundes-SPD profitieren kann. Wir haben in strukturschwachen Gebieten Kandidaten, die teilweise alleine mit Frau und Tochter den Wahlkampf bestreiten und die Plakate aufhängen. Für solche Fälle haben wir ein Projekt in Süd-Württemberg in der Gegend um Sigmaringen aufgelegt. Wir haben ein zweites Projekt im Speckgürtel um Stuttgart aufgelegt. Da beschäftigen wir uns unter anderem mit dem Strukturwandel auf dem Arbeitsmarkt. In einem dritten Projekt in Freiburg versuchen wir, die Unterschiede zwischen SPD und Grünen wieder stärker herauszuarbeiten. In Mannheim diskutieren wir in einem Projekt die Frage „Warum wählen die Leute eigentlich die AfD?“ Wir müssen aufhören, die Kümmererpartei zu sein. Wir müssen Politik mit den Menschen machen und für unsere Ideen gesellschaftliche Mehrheiten suchen. Deswegen arbeiten wir an diesen Projekten, die im Moment laufen. Davon kann die SPD in Baden-Württemberg, aber auch bundesweit profitieren. Unser größtes Problem ist das fehlende Vertrauen in die SPD. Das können wir nur mit glaubwürdiger Politik zurückgewinnen und Personen, die dafür stehen. Ich stehe für eine glaubwürdige inhaltliche Politik in der SPD. Denn alles, was ich heute vertrete, habe ich auch gestern so vertreten.
Sie haben beide gesagt, dass die SPD in Baden-Württemberg Vorreiter sein sollte für die Bundespartei. Ist sie das durch die Mitgliederbefragung schon?
Castellucci: Die Mitgliederbefragung ist eine Chance, wenn wir anständig miteinander umgehen und die Partei sich daran ein Vorbild nimmt. Es zeigt, dass Leben in der Bude ist und wir uns nicht aufgeben. Bei allen Veranstaltungen wird über inhaltliche Vorstellungen für die Zukunft gesprochen. Das halte ich für eine gute Sache.
Breymaier: Das ist auch nicht das erste Mal, dass wir eine Mitgliederbefragung machen. Das sind die Leute bei uns gewohnt. Wir hatten im Jahr 2000 eine Mitgliederbefragung, als es um die Spitzenkandidatur zur Landtagswahl von Siegmar Mosdorf und Ute Vogt ging. Wir hatten 2009 einen Entscheid zwischen Nils Schmid, Hilde Mattheis und Claus Schmiedel um den Landesvorsitz. Perspektivisch müssen wir gucken, dass wir das online hinkriegen. Die Befragung kostet uns jetzt 90.000 Euro. Das ist richtig viel Geld. Deswegen sollten wir an einer Online-Beteiligung arbeiten, damit eine solche Befragung noch selbstverständlicher wird.
Was ändert sich für Sie persönlich, wenn Ihre Kandidatur nicht erfolgreich sein sollte?
Breymaier: Ich werde wahrscheinlich mehr Zeit für meinen Wahlkreis und auch mehr private Zeit haben.
Castellucci: Ich trete an, weil es um die Existenz der SPD geht und wir das Ruder herumreißen müssen. Das werde ich mit all meiner Kraft versuchen, egal in welcher Position ich Verantwortung trage. Diese Partei wird mehr denn je gebraucht, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu organisieren und den Menschen eine Idee von einer guten Zukunft zu geben.
ist Redakteur des „vorwärts“. Er hat Politikwissenschaft studiert und twittert gelegentlich unter @JonasJjo