Belarus: Keine Migrationskrise, sondern eine Humanitätskrise
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Laut Frontex versuchten von Januar bis Oktober 2021 Bürger*innen aus dem Irak (3.868 Personen), Afghanistan (590 Personen), Syrien (265 Personen), dem Kongo (207 Personen) und Russland (182 Personen), über Belarus illegal in die EU zu gelangen. Unter den Bedingungen des politischen Konflikts mit der EU suchen die belarussischen Behörden nach Schwachstellen in den europäischen Institutionen und haben diese ihrer Meinung nach in der Migrationspolitik gefunden. Durch die Öffnung seiner Grenzen für Migrant*innen und Geflüchtete „testet“ Belarus Demokratie und die Achtung der Menschenrechte in der EU. Wie kann Europa diesen Test bestehen?
Werte-Dilemma
Die EU-Länder reden von einer „Instrumentalisierung“ des Migrationsproblems durch die belarussischen Behörden, aber es gibt nur wenige Methoden, um dieser Migrationsprovokation seitens des offiziellen Minsk zu begegnen: ein diplomatischer Dialog, ein flexibler Ansatz/Auslauf oder harte Maßnahmen.
Ein diplomatischer Dialog mit den amtierenden Behörden von Belarus ist kaum möglich, da diese Behörden das Leben der Bürger*innen des Irak, Afghanistans und Syriens nutzen, um die territoriale Integrität der EU und die Werte der europäischen Demokratie zu „testen“ und nicht die Fähigkeit der europäischen Bürokratie zur Steuerung der Migrationsströme zu prüfen. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass Brüssel eine harte Linie gegen Minsk wählt, den Einsatz der Armeen der EU-Mitgliedstaaten an der gesamten Grenze zwischen der EU und Belarus billigt und die Praxis der Pushbacks ohne die Möglichkeit, Asyl zu beantragen, als legitim anerkennt. Schließlich können solche rechtliche Verstöße in der Folge nicht nur bei den nationalen Gerichten der EU-Mitgliedstaaten, sondern auch beim Gerichtshof der Europäischen Union oder dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg angeklagt werden.
EU-Politiker*innen verurteilen die „vom belarussischen Staat organisierte Masseneinschleusung von Menschen“, übersehen aber die massiven Menschenrechtsverletzungen an der polnisch-belarussischen Grenze. Human Rights Watch beschreibt in seinem Bericht die Misshandlung von Migrant*innen, Fälle von Familientrennung, Verweigerung der Annahme von Asylanträgen und Kollektivausweisungen durch die polnischen Behörden. Brüssel und die EU-Länder stehen vor dem Dilemma, wie sie ihre Grenzen sichern, die Migrationsprovokation der belarussischen Behörden stoppen und die Achtung der Menschenrechte, einschließlich des Rechts auf Asyl, gewährleisten können. Jede Entscheidung in diesem Dilemma birgt große Risiken, unter anderem auch Reputationsrisiken.
Geiseln in einem tödlichen Spiel
Bürger*innen aus dem Irak, Afghanistan und dem Kongo an der belarusisch-polnischen Grenze sind „Geiseln“ in einem tödlichen Spiel – in einem Ping-Pong. Diese Menschen haben nur zwei Möglichkeiten: zu sterben oder zu versuchen, in einem EU-Land Asyl zu bekommen. Nach Angaben des International Rescue Committee sind bereits 13 Menschen, darunter ein Säugling, an der Grenze gestorben.
An der belarusisch-polnischen Grenze befinden sich etwa 7.000 Menschen, die darauf hoffen, in der EU-Ländern das Asyl zu erhalten. Um diese Menschen an der Einreise zu hindern, hat Polen mit dem Bau eines 2,5 Meter hohen Stacheldrahtzauns begonnen und 15.000 Soldat*innen zur Bewachung der Grenzen eingesetzt. Anfang November setzten polnische Grenzschützer*innen Tränengas und Wasserwerfer ein, um 1.000 Menschen am illegalen Grenzübertritt zu hindern. Unterdessen ist die Migrationssituation in Polen völlig unter Kontrolle: Das Land mit 38 Millionen Einwohner*innen hat zwischen Januar und November 2021 6.856 Asylanträge registriert.
Eines der Grundprinzipien der EU-Migrationspolitik ist es, zu verhindern, dass Asylbewerber*innen ohne die Möglichkeit, selbst einen Antrag zu stellen, abgeschoben werden. Im August 2021 genehmigte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte einstweilige Maßnahmen für fünf Afghanen, die den Gerichtshof ersucht hatten, ihre Überstellung nach Belarus auszusetzen und ihnen zu ermöglichen, in Litauen internationalen Schutz zu beantragen. Es ist unwahrscheinlich, dass dies die Asylpraxis in dem Land ändern lässt, in dem nur 10 von 2.639 Asylanträgen stattgegeben wurde. Litauische Beamt*innen erklärten, dass Litauen diese EU-Migrationspraxis ändern und unerlaubt eingereiste Migrant*innen zwangsweise zurückschicken werde.
Es ist keine Migrationskrise, sondern eine humanitäre Krise an der Grenze zwischen der EU und Belarus, weil die EU-Länder den belarussischen Behörden ermöglichen, die EU mit Hilfe von Migrant*innen und Asylsuchenden zu destabilisieren, und die Bewegung von Migrant*innen und Geflüchteten zu kriminalisieren, anstatt sich an ihre rechtsstaatlichen Ansprüche zu halten und dafür zu sorgen, dass jedem/jeder, der oder die Asyl beantragt, zu garantieren, dass dieser Antrag auch geprüft wird.
hat in Migrationsrecht promoviert und ist Direktorin und Gründerin von RUSMPI, dem Institut für Migrationspolitik in Berlin. Zudem ist sie Co-Vorsitzende der AG Migration und Vielfalt der SPD Steglitz-Zehlendorf.