Wie Bernie Sanders mit kapitalistischen Exzessen abrechnet
Für manch einen in der deutschen Sozialdemokratie ist Bernie Sanders der beste Präsident, den die Vereinigten Staaten nie hatten. Der 81-jährige Senator und zweimalige Präsidentschaftsbewerber zählt zum Urgestein der US-Politik und ist spätestens seit einem Strickhandschuh-Auftritt bei Joe Bidens Amtseinführung zu einer linken Ikone geworden. Nun hat Sanders eine neue Streitschrift vorgelegt, die am 14. Oktober auf Deutsch erscheint: „Es ist okay, wütend auf den Kapitalismus zu sein“.
Vision für eine politische Revolution
Angesiedelt ist das Buch irgendwo zwischen Autobiografie, Aufarbeitung und Empfehlung für womöglich doch noch nicht restlos aufgegebene höhere Ambitionen. Im Text geht es quer durchs Land von Town Hall Meetings und Amazon-Versandzentren bis in die heiligen Hallen des US-Senats. Auf im Original knapp 300 Seiten entwirft Sanders darin nichts weniger als die Vision für eine politische Revolution. Der aktuelle „über-Kapitalismus“ werde von wenigen Superreichen dominiert, die ihren Einfluss rücksichtslos ausspielen, um egoistische Habgier gegen die legitimen Bedürfnisse der breiten Bevölkerung durchzusetzen.
Zwei Leitfragen durchziehen das Buch: Erstens: Wie konnte es geschehen, dass Donald Trump das Weiße Haus übernahm? Und zweitens: Weshalb wenden sich weite Teile der Arbeiterklasse zunehmend von linker Politik ab?
Im Versuch der Antwort ist es Sanders hoch anzurechnen, dass er nicht einfach die erstbeste Ausfahrt in Richtung Wunschdenken ansteuert. Von ihm findet sich jedenfalls keine wohlfeile Beschwörung, die Linke müsse die eigene Politik nur „noch besser erklären“. Erklären? Das müssen sich eher die, die in sein Fadenkreuz geraten – nicht nur auf der politischen Rechten, sondern immer wieder auch auf der Linken.
Klassenfrage: Wall Street oder „arbeitende Familien“
Seiner eigenen Partei wirft er den Ausverkauf von Arbeiterinteressen und ein gewissenloses Schielen auf die Multi-Milliardäre vor – die „Cocktailparty Crowd“ und die „Beautiful People“ seien es, die die Demokraten im Blick hätten. In den USA aber herrsche „Klassenkampf“. Die Demokraten müssten sich deshalb entscheiden: Halten sie es mit der Wall Street oder mit „arbeitenden Familien“.
Erklärt wird die Frustration im Land mit einer schier endlosen Reihe von Fakten, die man als Feuerwerk bezeichnen könnte, wenn das alles nicht so furchtbar deprimierend wäre. Eine zwei-, nein, eine drei- oder vier-Klassen-Medizin, ein unfaires Bildungssystem, abstruse Steuerregeln, der obszöne Luxus der wenigen kombiniert mit gekaufter politischer Macht… Und parallel dazu das Abgleiten von immer mehr Menschen in die gesellschaftliche Vorhölle aus Verarmung und Verzweiflung. Sanders erinnert daran, wie schnell ein unverschuldeter Absturz zum ausweglosen Schicksal werden kann. Diese Ausgangslage habe den Treibsatz für Trump gebildet. Hier – so das Plädoyer – müssen die Antworten ansetzen.
Appell für „ökonomische Gerechtigkeit“
In der Tradition des New Deals und inspiriert von Martin Luther King Jr. plädiert Sanders deshalb für „ökonomische Gerechtigkeit“, für eine Reform des antiquierten politischen Systems, für Arbeitnehmerrechte, für Gesundheitsversorgung, bezahlbaren Wohnraum und angemessene Steuern für die, die ohnehin zu viel haben. „Milliardäre“, so Sanders, „dürfte es überhaupt nicht geben“.
All das klingt überzeugend. Und doch fragt man sich bei der Lektüre: Fehlt da nicht irgendetwas? Deutlicher wird dies in den Teilen, in denen das Buch der zweiten Leitfrage nachspürt – den Ursachen für den mittlerweile gut dokumentierten Trend der Abwendung der Arbeiterklasse.
„In einer Community nach der anderen“, beschreibt Sanders, „und in einer Gewerkschaft nach der anderen ist ein substantieller Teil der Arbeiter Republikaner geworden“. Die Demokraten seien mittlerweile „die Partei der besser gebildeten und wohlhabenderen“ und hätten sich „von der Arbeiterklasse abgewandt“. Die Menschen fühlten sich „von der Partei verlassen“.
Zukunft der Linken: nur als Fürsprecher der Arbeiterklasse
Auch hier gilt: In der hitzigen Debatte über die Ausrichtung der Linken weltweit ist es schon ein Verdienst, diese Entwicklung überhaupt als Manko zu beschreiben. Sind die traditionellen Wählerschichten der Linken nicht hoffnungslos an Demagogen verloren und völlig zurecht als unerreichbar abgeschrieben worden? „Auf nimmer Wiedersehen!“, heißt es in Reaktion auf diese Entwicklungen schließlich mancherorts ganz ungeschminkt.
Für solche Spielarten der Milieu-Verachtung findet Sanders klare Worte: Eine Zukunft habe die Linke nur als Fürsprecher der Arbeiterklasse. „Wahlen gewinnen und wirklicher politischer Wandel: das gelingt nur mit überwältigender Unterstützung der Arbeiterschicht“, heißt es. Dies sei nicht nur strategisch, sondern auch moralisch das Gebot der Zeit.
Jedoch: Hier die Reihen wieder zu schließen, könnte schwieriger werden als von Sanders erwartet – jedenfalls, wenn man sich alleine an seine Empfehlungen hält. Denn zur Wahrheit gehört auch, dass der – gerechtfertigte – verteilungspolitische Furor, mit dem sich Sanders um die Abgehängten bemüht, international an der Wahlurne immer wieder gescheitert ist. Podemos in Spanien, Syriza in Griechenland, Corbyn im UK, und letztlich auch der zweimalige Run von Sanders selbst aufs Weiße Haus haben am Ende schließlich eben keine Mehrheit zu Stande gebracht. Das aber legt den Schluss nahe, dass der Fokus auf Klasse und Verteilung zwar ein Wesensmerkmal von progressiver Politik sein muss. Dass ein solcher Ansatz aber nur gelingen kann, wenn andere Fragen dabei nicht totgeschwiegen, sondern gleichbedeutend beantwortet werden.
Über die Eintracht der Arbeiterklasse
Sanders beschwört eindringlich den „Respekt“ als „grundsätzliche Logik“ der politischen Arbeit. Wie befremdlich also, dass sich seine Analyse der gesellschaftlichen Polarisierung in entscheidenden Punkten von eben diesem Respekt verabschiedet.
Für Sanders wird die Eintracht der Arbeiterklasse alleine durch rechte Demagogie aus dem Gleichgewicht gebracht. Die Hetzer sind es, die „mit ungerechten Taktiken“ und Bewusstseinsverschiebung Zwietracht sähen. Homophobie, Transphobie, Rassismus, Neo-Faschismus, Xenophobie… so lauten die Stichworte der Diagnose. Die Wähler Trumps seien getrieben vom Ressentiment und „anfällig für Verschwörungstheorien“.
Sicher mag das in vielen Fällen zutreffen. Doch dass auch ein solches Daumensenken nicht ganz frei ist von Ressentiment – nur eben in progressivem Gewand – und eher weniger mit Respekt zu tun hat, gerät dabei aus dem Blick.
Gleiches gilt für den ja immerhin möglichen Umstand, der Verlust der Arbeiterklasse in zahlreichen westlichen Demokratien könne zumindest auch etwas mit bestimmten als exzessiv wahrgenommenen Positionen progressiver Eliten gerade in sozio-kulturellen Fragen zu tun haben. Diese Möglichkeit aber wird nicht einmal erwähnt. Statt klaren Ansagen gibt es Gerede um den heißen Brei. Mal ist die Antwort auf diese „alles entscheidende“ Frage „kompliziert“, mal ist es „eine lange Geschichte“. Real, so scheint es, sind lediglich die Fehlwahrnehmungen.
Auf Menschen zugehen
Folgefalsch lässt Sanders ganze Themenkomplexe außen vor und sorgt sich stattdessen darum, wie mediale Diskurse besser betreut werden können, um das Bewusstsein in die richtigen Bahnen zu lenken.
Kaum dreieinhalb Sätze finden sich zu Einwanderungsfragen – obwohl das Thema wahlentscheidend ist – nicht nur in den Vereinigten Staaten. Kein Wort über Kriminalität und Sicherheit – abgesehen von Attacken gegen „mordende Polizisten, die zu häufig straflos operieren“. Nichts über den Irrweg von „Defund the Police“. Schweigen über die Culture-Wars, die nicht nur an US-Hochschulen für Schlagzeilen sorgen.
Mag ja sein, dass das Strategie ist. Fort von Fragen der „Identitätspolitik“, hin zu Verteilungsdebatten – lautet so nicht die allgegenwärtige Empfehlung? Doch so lange bestimmende Teile der Linken die kulturelle Konfliktachse so offensiv bespielen, wie sie es tun, wird eine überzeugende Antwort der Verteilungs-Linken aus mehr bestehen müssen als aus beredtem Schweigen und der Hoffnung, die Wähler werden schon nicht so genau hinschauen.
Völlig zu Recht spricht Sanders davon, wie wichtig es ist, auf Menschen zuzugehen. Die Linke habe „in zu vielen Fällen den Kontakt zu arbeitenden Amerikanern verloren. Sie weiß nicht, wie sie mit ihnen sprechen soll“.
Abrechnung mit kapitalistischen Exzessen
Zum Sprechen aber gehört das Zuhören – und das Beantworten auch von Fragen, die nicht in Freund-Feind Schablonen passen. Zu erwähnen wären hier etwa Themen der Zuwanderung, des nationalen Selbstverständnisses, der ökologischen Transformation und der aktuell so gnadenlos ausgefochtenen Kulturkämpfe.
Hier nicht den Kopf in den Sand zu stecken, sondern die Debatte auch im eigenen Lager zu führen: Das wäre ein ebenso notweniger Apell, der nichts mit dem Bedienen von Vorurteilen zu tun hat, sondern mit Respekt vor vertrauten Lebensumständen, mit Sicherheit, Verlässlichkeit und sozialem Zusammenhalt.
Sanders schließt sein Buch mit dem Plädoyer, die Zukunft nicht zögerlich, sondern mutig anzugehen. Schade, dass er dieser Empfehlung nicht stärker selbst gefolgt ist. So bleibt eine immer wieder geradezu fulminante Abrechnung mit kapitalistischen Exzessen aufgrund zahlreicher blinder Flecke immer nur in Teilen ganz richtig.
Bernie Sanders: Es ist okay, wütend auf den Kapitalismus zu sein. Tropen Verlag, 432 Seiten. Erscheint am 14. Oktober 2023, 26,00 Euro.
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