Maidan-Dokumentation: Auf Augenhöhe mit dem Massenprotest
Rauchsäulen über dem von Menschenmassen und Barrikaden gesäumten Maidan in Kiew: Jeder kennt die Bilder vom Februar 2014, als die Proteste gegen den ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch ihren Höhepunkt erreicht hatten. Am Ende waren mehr als 100 Menschen tot und Janukowitsch aus dem Amt gefegt. Das kleptokratische Regime schien überwunden. Eine Zeit der Hoffnung. Wenig später schnappte sich Russland die Krim, begann der Krieg im Osten des Landes. Wann und wie eine neue Ukraine auf die Füße kommt, ist nicht abzusehen.
Auch der ukrainische Regisseur Sergei Loznitsa greift in einigen wenigen Szenen jene Bilder aus Kiew auf, die damals die Fernsehsender beherrschten. Doch überwiegend folgt sein fast zweistündiger Dokumentarfilm über die Protest zwischen dem Herbst 2013 und Februar 2014 einer ganz anderen und ungewohnten Perspektive. Monatelang war er mit einem Kameramann auf dem Maidan und an den zentralen Treffpunkten der Janukowitsch-Gegner unterwegs, um die Entwicklung des zivilen Ungehorsams und die Stimmung unter den Menschen, die sich den Spezialeinheiten des Regimes entgegenstellten, einzufangen. In starren, sorgfältig kadrierten Einstellungen fangen sie die Menge vor der Rednertribüne ein, von wo aus die Demonstranten beschallt werden. Seien es Spottlieder auf die gefürchtete Spezialeinheit Berkut oder den russischen Präsidenten Wladimir Putin, Gebete, die Nationalhymne oder kämpferische Reden. Der Zuschauer sieht meist das, was auch die Menschen auf dem Platz sehen. Unwissentlich stellen sie sich immer wieder vor die Kamera, sodass das Ganze den Eindruck der Unmittelbarkeit, aber auch der Zufälligkeit vermittelt.
Breite Wand aus schwarz bekleideten Sicherheitskräften
Durch diesen besonderen Blick ergeben sich intensive Eindrücke, die Fernsehzuschauern seinerzeit versagt geblieben sind. Zum Beispiel der selige Schlaf eines Demonstranten auf einer Blechtonne, während Putin, zweifellos einer der Erzfeinde an diesem Ort, lautstark durch den Kakao gezogen wird. Eine längere Szene aus der Protestcamp-Küche zeigt wiederum, was für ein Durchhaltevermögen die freiwilligen Helferinnen und Helfer bewiesen, um die Marathon-Protestierer jeden Tag satt zu kriegen. Auch das Miteinander verschiedener Generationen ist in dieser Bewegung augenscheinlich. Anfangs erscheint die Masse wie ein geduldiger, vor allem um seine Würde bemühter Körper, der die scharfen Attacken gegen die Regierung und den Kreml aufsaugt. Als ob sich ein Volk im Zeichen des Protests, dessen Ausgang zu diesem Zeitpunkt völlig offen ist, gerade selbst findet.
Mit zunehmender Eskalation wird der Kontrast zwischen dem stoischen Kamerablick und dem Geschehen stärker. Eine breite Wand aus schwarz bekleideten Sicherheitskräften in Kampfmontur marschiert auf, Menschen laufen kreuz und quer, Steine fliegen, Schüsse krachen. Und der Zuschauer immer mittendrin. Sorgt die Perspektive anfangs für Längen, macht sie es in dem gewalttätigen Durcheinander möglich, den Überblick zu bewahren und Details zu erkennen. Als würde man ein Brueghel-Gemälde betrachten, auf dem es nur so wuselt.
Geschichte ohne Helden
All das bekommt der Zuschauer, abgesehen von einigen Einblendungen, ohne inhaltliche oder didaktische Hilfsmittel oder jegliche personenbezogene Erzählstruktur vorgesetzt – jene Geschichte, die durchaus heldenhafte Züge hat, muss hier ohne Helden auskommen. Der 1964 geborene Loznitsa überlässt es seinem Publikum, das Gesehene zu interpretieren. „Wir sind es gewohnt, im Kino wie ein Küken der Henne hinterherzulaufen“, erklärt er den Bruch mit der klassischen Erzählweise mit dem Fokus auf einen Protagonisten. Aktivisten der Protestbewegung warfen ihm vor, zu distanziert vorgegangen zu sein. Der Filmemacher beruft sich darauf, mit der Auswahl der Bilder durchaus eine Richtung vorgegeben zu haben. Eine objektive Haltung könne ein Mensch gegenüber der Geschichte ohnehin nicht annehmen, so der seit fünf Jahren in Deutschland beheimatete Regisseur. Ihm geht es um eine ganz eigene Form von Wahrhaftigkeit, der er sich mit Mitteln des „Direkt Cinemas“, also einer in heutigen Dokumentionen beliebten,auf „reine“ Beobachtung ausgericheten Ästhetik, nähert.
So kann diese Arbeit als Einladung gesehen werden, sich die Geschehnisse auf dem Maidan noch einmal genauer anzuschauen und seine Schlüsse zu ziehen. Dass jene tödlichen Schüsse noch immer nicht aufgeklärt sind, ist eines von vielen Beispielen dafür, dass die Maidan-Proteste bis reichlich Raum für Spekulationen und Interpretationen bieten. Der spätere Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk gibt in dem Film bereits einen Fingerzeig in Richtung Moskau. Dessen ungeachtet fragt man sich manchmal, mit dem Wissen darum, was den Tagen des Aufruhrs folgte, was der Film fast zwei Jahre danach über die oft ornamentalen Bilder hinaus vermitteln will und kann. Berührend und bedrückend ist diese Chronik aber allemal.
Info: Maidan (Niederlande/Ukraine 2014), ein Film von Sergei Loznitsa, Kamera: Sergei Loznitsa und Serhiy Stefan Stetsenko, 130 Minuten. Ab sofort im Kino