Lettland: Emanzipation in einer Bevölkerung, die abwandert
Sabcat Media
Jedes Land hat seine Geschichten. Die baltischen Republiken haben wegen ihrer wechselvollen Vergangenheit und dem Transformationsprozess seit dem Ende der Sowjetunion ganz besonders viele zu erzählen. Leider bekommt zumindest das internationale Kinopublikum davon nicht allzu viel mit. Umso erfreulicher ist es, wenn es eine Produktion aus Litauen, Lettland oder Estland in die hiesigen Lichtspielhäuser schafft. Oder eben wenn sich, wie nun im Falle von „Mellow Mud“ („weicher Schlamm“), Vertriebswege für Heimkinoformate finden.
Wir befinden uns tief in der lettischen Provinz. Die 17-jährige Raya und ihr kleiner Bruder Robis teilen sich mit ihrer Großmutter, ihrem Vormund, ein Holzhaus. Die boomende Hauptstadt Riga ist in dieser Welt des Stillstands so fern wie ein anderer Planet, vor allem ein Sehnsuchtsort. Bei vielen Menschen reicht die Sehnsucht allerdings viel weiter. So erging es auch der Mutter von Raya und Robis. Seit einigen Jahren lebt sie in London. Aber auch in Rayas Freundeskreis macht sich dieses Verlangen breit. Was aus dem Vater geworden ist, bleibt ein Geheimnis.
Wenn Auswandern normal ist
„Auswanderung ist die neue Normalität“, heißt es in Forscherkreisen über die lettische Gesellschaft. Will heißen: Wer kann, geht ins Ausland, um dort wesentlich mehr für seine Arbeit zu bekommen. Das galt besonders für die Zeit unmittelbar nach dem EU-Beitritt und der damit verbundenen Arbeitnehmerfreizügigkeit, aber auch nach der Finanzkrise 2008/2009. Einer von der Bundeszentrale für politische Bildung verbreiteten Schätzung zufolge verlor Lettland zwischen den Jahren 2009 und 2013 9,1 Prozent seiner Bevölkerung an das – in der Regel westliche – Ausland.
Oft sind es junge und gut ausgebildete Erwachsene, die sich in die Fremde aufmachen. Zurück bleiben Kinder und Alte. Gewohnte Familienstrukturen lösen sich auf. Die neuen Strukturen sind in „Mellow Mud“ äußerst fragil. Als plötzlich auch noch die Oma ausfällt, sind Raya und Robis auf sich allein gestellt. Eigentlich wären sie jetzt ein Fall fürs Heim. Doch Raya trifft eine radikale Entscheidung, die es ihnen ermöglichen soll, der staatlichen Fürsorge zu entgehen und auch weiterhin möglichst autonom zu leben, wenn auch um den Preis einer falschen Fassade. Ehrlich ist hingegen ihr Bestreben, dass im Alltag der Geschwister alles besser werden soll. Mit Schule schwänzen ist es nun vorbei. Das macht Raya, die, ohne es zugeben zu wollen, in eine Art mütterliche Rolle hineinwächst, auch ihrem Bruder klar.
Kampf um Zusammenhalt in der Familie
Vielleicht gelingt es ihr sogar, die Mutter nach Hause zu holen? Als hätte sie nur auf diese weitere Etappe des familiären Auflösungsprozesses gewartet, entwickelt die junge Frau eine beeindruckende Willenskraft und Zielstrebigkeit, um das, was ihr von der Familie und ihrer Heimat geblieben ist, zu bewahren. Gleichzeitig sucht sie ihr ganz persönliches Glück. Man ahnt es: Raya wird in einiger Zeit nicht mehr dieselbe sein. Gleichzeitig ist offenkundig, dass dieser Aufbruch schon wegen der erdrückenden Verantwortung auf tönernen Füßen steht.
„Mellow Mud“ wird ganz aus Rayas Perspektive erzählt. Das kann durchaus als Herausforderung gesehen werden. Noch nicht ganz erwachsen und doch kein Kind mehr. Ein klares Ziel vor Augen und immer wieder Rückschläge. Und eine Liebe, die eigentlich tabu ist: Raya durchlebt vielerlei Irrungen und Widersprüche, doch Regisseur und Drehbuchautor Renars Vimba gelingt es in seinem Spielfilmdebüt, all dies in einer schlüssigen Erzählung aufzulösen, wenngleich die Zuschauenden ebenso wie Raya oft nur auf Sicht fahren. Aber das tut der Spannung ja keinen Abbruch.
Emanzipation als Spannungsbogen
Ganz im Gegenteil: Gerade weil alles in der Schwebe ist, hält einen dieses Abenteuer bis zum Ende bei der Stange. Was auch an dem hinreißenden Spiel von Elina Vaska liegt, die hier in ihrer ersten Hauptrolle zu erleben ist: Jenseits jeglicher Klischees bringt sie uns eine mitunter schwer zu ergründende Persönlichkeit, die eben nicht den einzigen Ausweg im Abhauen sieht, nahe. Allzu viele Worte sind dazu meist nicht nötig.
Vielmehr können wir immer wieder in langen und statischen Einstellungen erleben, wie Rayas Körpersprache und ihre Mimik Teil der Erzählung sind. Einer Erzählung, die bei aller Schwere immer wieder auch lichte Momente bietet. Dieser soziale Realismus schaut in keinem Moment weg, überzeichnet die Dinge aber auch nicht. Vor allem aber verleiht er nicht nur den zentralen Figuren eine beeindruckende Tiefe. Bei der Berlinale 2016 gab es für diese geerdete und manchmal etwas schroffe Poesie den Gläsernen Bären.
„Mellow Mud“ („Es esmu šeit“, Lettland 2016): Ein Film von Renars Vimba, mit Elina Vaska, Andžejs Janis Lilientals, Edgars Samitis u.a., 111 Minuten, ab sechs Jahre.
Ab 19. November auf Blu-ray und DVD