Helmut Schmidt: Ein Hanseat mit kongenialer Begabung zur Selbstinszenierung
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Seine inzwischen 73 Jahre sind Peer Steinbrück nicht anzumerken. Schnellen Schrittes läuft der frühere Bundesfinanzminister über den Platz und bleibt unmittelbar, aber mit dem entsprechenden Sicherheitsabstand vor Christoph Charlier stehen, dem Vorstandsvorsitzenden des Willy-Brandt-Forums in Unkel. In dem 5.000 Einwohner*innen zählenden Städtchen lebte Brandt von 1979 bis zu seinem Tod im Jahr 1992. Doch heute geht es nicht um ihn, sondern um seinen unmittelbaren Nachfolger im Amt des Bundeskanzlers: Helmut Schmidt. Peer Steinbrück ist gekommen, um eine Fotoausstellung über seinen früheren Mentoren zu eröffnen. Bevor es losgeht, besichtigt er die Räumlichkeiten des Forums und erzählt einige Anekdoten aus der Zeit der Bonner Republik.
Ein rhetorischer Parforceritt
Zu dieser Zeit, nämlich 1976, trat auch Charlier in die SPD ein. Damals nicht wegen, sondern trotz Helmut Schmidt, den er damals als technokratischen Politiker wahrgenommen habe, erklärt der Vorsitzende des Willy-Brandt-Forums zur Einleitung der Veranstaltung, die in diesem Jahr coronabedingt unter anderen Umständen stattfindet. Im vergangenen Jahr bei einem Vortrag von Gerhard Schröder waren noch mehr als 600 Gäste im Saal, diesmal sind es 109 abgezählte und mit entsprechendem Abstand auf einzelnen Stühlen platzierte Besucher*innen. Doch geändert hat sich nicht nur das Fassungsvermögen des Saales, sondern inzwischen auch Charliers Meinung über den früheren Bundeskanzler: „Aus der Kröte Helmut Schmidt ist ein Märchenprinz geworden.“ Steinbrück verortet er rhetorisch in der „selben Gewichtsklasse wie Schmidt Schnauze“. Was nicht zu viel versprochen ist: Denn der SPD-Kanzlerkandidat von 2013 brilliert anschließend in einem 30-minütigen, rhetorischen Parforceritt durch das Leben Helmut Schmidts, seine Erinnerungen mit ihm und die aktuelle weltpolitische Lage.
„Hanseat – Staatsmann – Weltbürger“, so lautet der Titel der Fotoausstellung in Erinnerung an den 2015 verstorbenen ehemaligen Bundeskanzler. Hanseat war Schmidt schon qua Geburt, im Stadtteil Barmbek wurde er 1918 geboren. Auch während seiner Kanzlerzeit lebte er später in bescheidenen Verhältnissen, wie Steinbrück referiert. „Man kann sich das nicht vorstellen, aber er lebte nicht in einer Hamburger Villa, sondern in einem Reihenhaus der Neuen Heimat.“ Bier statt Wein, und Kartoffelsalat mit Würstchen statt Coq au vin. Doch bei aller Bescheidenheit habe sich Schmidt auch durch eine „kongeniale Begabung zur Selbstinszenierung“ ausgezeichnet, die ihm nicht nur in Talkshows, sondern auch bei Treffen auf internationaler Ebene zugute gekommen sei.
Schmidt „las und fraß Akten“
Schmidt habe sich zudem durch einen extrem hohen Arbeitsethos ausgezeichnet. „Er las und fraß Akten“, sagt Steinbrück. Akten, die stets nach dem gleichen Dreiklang „Sachstand – Problematik – Votum“ gegliedert sein mussten und nicht mehr als drei Seiten umfassen durften. Eine Vorgehensweise, die Steinbrück später als Regierungschef in Nordrhein-Westfalen und Finanzminister im Bund selbst übernahm. Standhaftigkeit im Angesicht des Terrorismus, das klare Bekenntnis zum transatlantischen Verhältnis und Weitsicht im Hinblick auf die globale Ordnung, nennt Steinbrück als zentrale Errungenschaften des Weltbürgers Schmidt. Wenngleich er betont, er sei „weit davon entfernt, Ihnen mit einer Ikonisierung Schmidts zu kommen“.
So weist er darauf hin, dass der frühere Bundeskanzler nur ein sehr geringes Sensorium gegenüber den Themen Umwelt- und Klimaschutz gehabt habe. Seine Energieprogramme seien falsch und nicht fortschrittlich gewesen und für mehr Gleichberechtigung sei er „zu sehr Macho“ gewesen. Schmidts Kanzlerschaft und damit gewissermaßen auch seine politische Karriere endete 1982 mit der Kontroverse um den NATO-Doppelbeschluss und die daraus folgende Aufrüstung der Bundesrepublik während des Kalten Krieges. Doch in diesem Punkt betont Steinbrück, Schmidts Haltung sei historisch gesehen richtig gewesen: „Er schwamm mit dem NATO-Doppelbeschluss gegen den Strom, aber im Nachhinein dürfte er Recht gehabt haben.“
Eine Strategie wie beim NATO-Doppelbeschluss
An diesem Punkt schlägt Steinbrück die Brücke zur Gegenwart. Auf die Frage, wie sich Schmidt angesichts der Nawalny-Krise wohl gegenüber Russland verhalten hätte, antwortet er: „Schmidt wäre nie so auf Tuchfühlung mit Russland gegangen wie einer seiner Nachfolger.“ Gemeint ist Gerhard Schröder, über den Steinbrück ansonsten sehr wertschätzend spricht. Er fügt an: „Schmidt hätte vermutlich gesagt: Baut das Ding fertig, aber wartet mit der Inbetriebnahme so lange, bis die Russen bestimme Bedingungen erfüllt haben.“ Denn das sei exakt das Muster des damaligen NATO-Doppelbeschlusses.
ist Redakteur des „vorwärts“. Er hat Politikwissenschaft studiert und twittert gelegentlich unter @JonasJjo