Kultur

Europäische Kulturhauptstadt 2025: Chemnitz lockt mit Brüchen und Geschichten

In Chemnitz tut sich was: Die Karl-Marx-Stadt wandelt sich im kommenden Jahr von einer ungesehenden Industriestadt zum internationalen Fokus. Bürgernahe Kunst- und Kulturprojekte zeigen Aufbruch und Veränderung.
 

von Nils Michaelis · 25. Oktober 2024
Betonen den Graswurzelansatz: Michelle Auerbach, Vanessa Azeroth und Pascal Anselmi (v.l.) von der Chemnitz 2025 Gmbh.

Betonen den Graswurzelansatz: Michelle Auerbach, Vanessa Azeroth und Pascal Anselmi (v.l.) von der Chemnitz 2025 Gmbh.

Chemnitz ist eine Stadt des Wandels und der Brüche. Was das konkret bedeutet, veranschaulicht die Hartmannfabrik. Der schlanke Bau am Rande der Innenstadt steht für die Industrietradition der sächsischen Großstadt. Vom Ende des 19. Jahrhunderts an wurden dort Werkzeugmaschinen für „Eisenbahnkönig“ Richard Hartmann gefertigt. Das Gebäude ist die letzte erhaltene Produktionsstätte eines ehemals riesigen Fabrikgeländes. Es symbolisiert auch die Umbrüche nach dem Ende der DDR. Jahrzehntelang stand es leer und verfiel.

Nun herrscht dort neues Leben. Am 18. Januar 2025 startet Chemnitz in das Jahr als Europäische Kulturhauptstadt. Die rund tausend Veranstaltungen werden sich auch mit den Herausforderungen befassen, die die Menschen in Chemnitz und anderen vom Strukturwandel geprägten Landstrichen Europas durch­gemacht haben. 

Ostdeutsche Mentalität erforschen

Die Hartmannfabrik dient als Besucher- und Informationszentrum. Für diesen Zweck wurde das markante Gebäude saniert und umgebaut. Mit seiner kargen Inneneinrichtung und den hohen Säulen erinnert es an einen evangelischen Dom. Der über den Köpfen der Besucher*innen ruhende Kranschlitten verweist auf vergangene Zeiten. Längst ist hier ein anderer und Aufbruch verheißender Geist eingezogen. Loungeecken mit Sesseln und ein langer Tresen versprühen den Charme eines kreativen Coworking-Places. Das hat seinen Grund. Anstelle von Maschinen sollen in der Hartmannfabrik neue Ideen entstehen und ihren Weg ­hinaus in die Welt finden, sollen internationale Begegnungen möglich gemacht ­werden. Die Kulturhauptstadt Europas Chemnitz 2025 gGmbH hat dort ihren Sitz. Sie ist für die inhaltliche und organisatorische Steuerung des Kulturhauptstadtjahres verantwortlich. 

Angekündigt wird ein „Culture Clash zwischen Hochkultur und lebendiger Indieszene, zwischen Jugendstil, Industrie- und DDR-Architektur sowie postsozialistischer Moderne“. Anhand von fünf Programmbereichen soll eine „Vision von Chemnitz 2025“ geschaffen werden. Wie können kulturelle Partizipation und Bürgerbeteiligung den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken? Diese Frage steht im Mittelpunkt der Sparte „Europäische Macher:innen der Demokratie“. In Projekten und Events unter dem Label „Osteuropäische Mentalität“ wird erforscht und dargestellt, inwiefern sich im früheren Karl-Marx-Stadt Erfahrungsräume offenbaren, die die Menschen in anderen Transformationsregionen Europas teilen. 

Pascal 
Anselmi,
Projektmanager 

Chemnitz profitiert schon jetzt vom Kulturhauptstadtjahr

Im Bereich „Großzügige Nachbarschaft“ wird es darum gehen, über das Entdecken und Erleben ungeahnter Gemeinsamkeiten Werte wie Respekt, Toleranz und Solidarität im Zusammenleben erfahrbar zu machen. „Macher:innen²“ bringt Unternehmer*innen, Ingenieur*innen und Kreative zusammen, die neue Sichtweisen auf lokale materielle und immaterielle „Rohstoffe“ wie zum Beispiel das Industriekulturerbe entwickeln sollen. Das Programmfeld „In Bewegung“ widmet sich den Geschichten der Menschen aus der Region: Was bewegte sie gestern, was bewegt sie heute und was morgen? In diesem Rahmen sollen kulturelle Angebote neue Impulse in der Kulturhauptstadtregion setzen.

Mehrwert für die Menschen vor Ort

Schon lange vor dem offiziellen Start hat das Kulturhauptstadtjahr vielerorts im Stadtbild sichtbare Spuren hinterlassen. Zum Beispiel in Form von vier „Orten des Aufbruchs“. Das sind ehemalige Indus­trie- und Wohnbrachen, die im Rahmen des Kulturhauptstadt-Verfahrens für eine neue Nutzung ertüchtigt wurden. 
Einer dieser Orte ist die Hartmannfabrik. Dort herrscht dieser Tage Hochbetrieb. Bei einem Besuch im Oktober tragen Mitarbeitende Kisten und Pakete durch die Halle. Sie bereiten unter anderem ein weiteres öffentliches Werkstattgespräch zu der Frage „Was kann Kulturhauptstadt in Chemnitz?“ vor. 

Am Rande des Gewusels steht Pascal ­Anselmi. Der Projektmanager betont den Graswurzel-Ansatz des Kulturhauptstadtjahres, das für die Menschen vor Ort einen bleibenden Mehrwert schaffen soll. „Fast alle Veranstaltungen werden von Institutionen, Organisationen und Einzelpersonen aus Chemnitz und 38 weiteren Kommunen in der Region getragen“, sagt Anselmi. „Wir wollen den Kunst – und Kultursektor im Großraum Chemnitz nachhaltig stärken.“ Schon jetzt profitiere die rund 247.000 Einwohner zählende Stadt von dem Entwicklungsprozess und von den neu entstandenen Kontakten ins Ausland.

Gemeinschaftsort Garage

Jedes Projekt ­habe eine europä­ische ­Dimension. „Unsere Partner haben wir bei der Erarbeitung des Programms dazu animiert, Verbindungen zu Institutionen und Initiativen in anderen europäischen Ländern aufzunehmen.“ Bislang sei Chemnitz eine ungesehene Stadt gewesen, die entweder nicht gekannt oder als exotischer Ort betrachtet worden sei. Das ändere sich nun. „Mittlerweile ist Chemnitz vielen Leuten ein Begriff“, betont Anselmi. „Prototypisch für viele ostdeutsche Themen hat diese Stadt viel zu erzählen.“ 

Als „Flaggschiff“ bezeichnet der 35-Jährige das Projekt „#3.000 Garagen“. Dieses rückt Orte der Begegnung in den Fokus, die zu DDR-Zeiten oft in Eigenregie errichtet wurden. In künstlerischen Projekten werden die Geschichten der Nutzer*innen vermittelt, darüber hinaus sollen die Garagen durch Feste und Workshops als soziokulturelle Gemeinschaftsorte aktiviert werden. Anselmi sieht darin eine Brücke in andere, ehedem sozialistisch geprägte Gegenden Europas. Zum Beispiel ins slowenische Nova Gorica, das ebenfalls als Europäische Kulturhauptadt 2025 gekürt wurde. „Menschen aus Polen oder Slowenien muss man das zivilgesellschaftliche Phänomen Garage nicht erklären, bei Westdeutschen ist das ­anders“, sagt er. 

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