Hintergrund der Romanhandlung ist die Situation im Baltikum Mitte des 20. Jahrhunderts: In Folge des Hitler-Stalin-Paktes von 1939 okkupierte die Sowjetunion die baltischen Staaten. Ab 1940 ließ die sowjetische Regierung Hunderttausende von Litauern, Letten und Esten nach Sibirien deportieren, um die Eigenständigkeit der baltischen Nationen zu brechen und ihre Integration in die Sowjetunion zu erzwingen.
Erst Mitte der 50er Jahre wurden diese Zwangsdeportationen, bei denen viele Tausend Menschen zu Tode kamen, beendet. Die amerikanische Autorin Ruta Sepetys, deren Vorfahren aus Litauen stammen, hat die Geschichte der Deportationen mit Hilfe von Zeitzeugen und wissenschaftlichen Studien gründlich recherchiert.
Aus dem behüteten Elternhaus ins unwirtliche Sibirien
Aus der Perspektive ihrer Protagonistin Lena, einer 15-jährigen Professoren-Tochter aus Kaunas, beschreibt Sepetys das Leiden, dem insbesondere Angehörige des liberalen Bürgertums der baltischen Staaten ausgesetzt waren: Eine brutale Vertreibung aus einem von Liebe und Offenheit geprägten Elternhaus, eine Bahnfahrt im Güterwagen durch Russland bis nach Sibirien, nördlich des Polarkreises.
Die Schilderungen eines Alltags, der geprägt ist von Hunger, Kälte, Zwangsprostitution und Tod sind bedrückend zu lesen. Die Ängste und die Ohnmacht der Menschen angesichts der erlebten Willkür werden ebenso deutlich wie das Bemühen, ihre Würde und ihren Überlebenswillen zu bewahren. So pflegen die Deportierten in Sibirien ihre Bräuche, und Lena dokumentiert unter widrigsten Bedingungen das Erlebte in Form von Zeichnungen. Bei aller Sympathie für die Verfolgten verfällt Sepetys dabei nicht in eine einfache Schwarz-Weiß-Malerei. So thematisiert sie in ihrem Buch auch den Antisemitismus in Litauen.
Gut zu lesen, trotz der dargestellten Brutalität
Sepetys' Roman "Und in mir der unbesiegbare Sommer" besteht aus 86 kurzen Kapiteln. Die Zahl der Personen ist überschaubar und erleichtert gemeinsam mit der Gliederung die Lektüre. Dem entspricht die über weite Strecken lineare, erst gegen Ende des Romans differenzierter gestaltete Zeichnung der Charaktere. Die Folge ist, dass der Leser trotz der Darstellung größter Brutalität seltsam distanziert bleibt, emotional nicht überwältigt wird. Denn das ist ein Problem, dass aus auch aus realistischer Prosa zum Holocaust bekannt ist.
Dass Sepetys atmosphärisch dicht formulieren kann, zeigt sie immer dann, wenn Lena sich während der Gefangenschaft in Rückblenden an ihre glückliche Kindheit und Jugend in Kaunas erinnert. In diesen Passagen werden die Schilderungen von einer Anschaulichkeit bestimmt, die der Darstellung der Extremsituation der Deportierten fehlt, fehlen muss. Dass Lena nach der 12-jährigen Gefangenschaft in Sibirien und der Rückkehr nach Kaunas ihren Jugendfreund Andrius heiratet, dürfte vor allem dem Genre Jugendroman geschuldet sein.
Ruta Sepetys: "Und in mir der unbesiegbare Sommer" Aus dem amerikanischen Englisch von Henning Ahrens, Carlsen, Hamburg 2011, 304 Seiten, 16,90 Euro, ISBN 978-3-551-58254-6