Kultur

Buchtipp „Marseille 1940“: Über die bewegende Flucht vor Hitlers Schergen

Hannah Arendt, Max Ernst, Golo Mann sind nur drei von rund 2.000 Intellektuellen, die Varian Fry vor der Hitler-Diktatur retten konnte. Wie ihre Emigration ein Kampf ums Überleben wurde, beschreibt Uwe Wittstock in „Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur“.

von Norbert Bicher · 26. März 2024
Marseille 1940

Uwe Wittstock, Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur, C.H.Beck-Verlag München, 351 Seiten, 26.00 Euro  

Angst, Verzweiflung, Erlösung oder Tod. In „Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur“ zieht der Autor Uwe Wittstock seine Leser*innen in eine Achterbahn der Emotionen. Mehr als achtzig Jahre nach dem verzweifelten Versuch, den Nazis im besetzten Frankreich per Schiff oder auf Schmugglerpfaden über die Pyrenäen zu entkommen, sind die Leser durch ungezählte Tagebuchnotizen hautnah dabei, wie sich verfolgte Schriftsteller*innen, Maler*innen, Wissenschaftler*innen und Journalist*innen dem Zugriff der Hitler-Diktatur entziehen wollten. Juden und Jüdinnen, Systemgegner*innen – zu Tausenden irren sie durch Frankreich, um ein Schlupfloch in die Freiheit zu finden.

Von Hannah Arendt bis Franz Werfel 

Heinrich und Golo Mann, Anna Seghers mit ihren Kindern, Lion Feuchtwanger, Walter Benjamin, Franz Werfel und Alma Mahler-Werfel, Max Ernst oder Hannah Arendt. Um nur einige zu nennen. Sie alle in einem existentiellen Versteckspiel vor der heranziehenden deutschen Armee und der Gleichgültigkeit der französischen Vichy-Regierung.

Dass es auf der anderen Seite des Ozeans mit dem Journalist und Wissenschaftler Varian Fry einen Mann gibt, der mit gleicher Verzweiflung nach Wegen sucht, um Ikonen deutscher und europäischer Kultur vor der Vernichtung zu retten, wissen sie lange nicht. Während sie in Internierungslagern vor sich hin vegetieren oder ziellos durch den Süden des besetzten Landes irren, sammelt Fry in den USA Geld, um die große Flucht zu finanzieren und sie später selbst vor Ort in Marseille zu organisieren. Mehr als 2.000 Intellektuelle können er und seine Organisation „Emergency  Rescue Comittee“ retten – trotz des Unbehagens der US-Regierung, unter ihnen auch Kommunist*innen aufnehmen zu müssen.

Schicksal von Entwurzelung

Wittstocks große Kunst ist es, dass er die Schicksale wie in kurzen Filmszenen mit großer Spannung zusammenfügt, den Leser*innen keine Chance lässt, sich der Dramatik zu entziehen. Er raubt damit dem Begriff „Flucht“ jegliche Sterilität. Flucht als Massenbewegung? Der Autor macht mit seinem Rückgriff auf die privaten, oft sehr intimen Notizen der Fliehenden deutlich, dass der einzelne das bittere Schicksal von Entwurzelung immer ganz individuell ertragen muss.

Dass dieses Buch erst in diesen Tagen für so große Aufmerksamkeit sorgt, dass erst jetzt die teils herzzerreißenden Zeugnisse der Erniedrigung und der Entmenschlichung aus den Archiven hervorgezaubert werden, sagt viel aus über das Unverständnis, mit dem die junge Bundesrepublik dem Schicksal der Emigrant*innen begegnete. Als sie zurückkehrten in das Land, aus dem sie in Lebensgefahr fliehen mussten, waren sie keineswegs hochwillkommen. Für die Literat*innen der „Gruppe 47“ war nicht die Flucht und Emigration nach draußen das Maß aller Dinge. Richtschnur für Anstand und Moral eines Großteils von ihnen war es, den Nazis in der „inneren Emigration“ stand gehalten zu haben.

Wenige der Geflohenen wurden in der jungen Bundesrepublik nach der Rückkehr so anerkannt oder gar verehrt wie der ohnehin privilegierte und früh in die USA ausgewanderte Literaturnobelpreisträger Thomas Mann, der – in der Schweiz lebend – mit Ehrungen des deutschen Literaturbetriebs überschüttet wurde.

Späte Würdigung

Dass auch die Wissenschaft nicht unbedingt erpicht war, Rückkehrer*innen anerkennend aufzunehmen, erfuhr Thomas Manns Sohn Golo. Dem Historiker, der durch seine Flucht vor den Nazis eine untadelige Vergangenheit hatte, wurde es – laut seinem Biograph Tilmann Lahme – durch die „Platzhirsche“ der Frankfurter Schule, Theodor Andorno und Max Horkheimer versagt, eine Professur an der Frankfurter Universität zu erhalten.

Nicht nur den Geflohenen, auch ihrem Retter blieb die Anerkennung lange versagt. Fry, der eigenwillige, aber hochkarätige Journalist musste sich den Lebensunterhalt nach dem Krieg teilweise als Werbetexter für Coca Cola verdienen. Wie groß seine Leistung war, das würdigte die israelische Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem erst vor wenigen Jahren, als sie ihn endlich in die Reihe der „Gerechten der Völker“ aufnahm.

„Marseille 1940“ ist mehr als eine spannend geschriebene Geschichte über eine dunkle Zeit. Das Buch ist die längst notwendige Rehabilitation all derer, die in großer Lebensgefahr den mühsamen, teils tödlichen Weg der Flucht auf sich nehmen mussten. Und es ist die Erkenntnis, dass Emigration kein Davonstehlen, sondern eine bittere Strategie ums nackte Überleben war. 


Uwe Wittstock, Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur, C.H.Beck-Verlag München, 351 Seiten, 26.00 Euro  

Autor*in
Norbert Bicher

arbeitete in den 1980er und 1990er Jahren frei für den „Vorwärts". Danach war er Parlamentskorrespondent, Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion und des Verteidigungs­ministeriums.

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