Warum jetzt auch in Österreich für die Demokratie demonstriert wird
In Deutschland gehen seit Wochen Hunderttausende gegen die AfD und für die Demokratie auf die Straße. Nun sind die Pro-Demokratie-Demos nach Österreich übergeschwappt. Dort liegt die ultrarechte FPÖ in Umfragen für die Parlamentswahl auf Platz eins.
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Demonstration gegen Rechts in Wien am 26. Januar: Die Welle ist nach Österreich geschwappt.
Es ist Freitag, knapp vor acht Uhr abends, und Erich Fenninger hängt aufgekratzt, euphorisch, aber auch müde und entspannt ans Tretgitter am Rande des Bühnenbereichs gelehnt. Gerade hat er sich über ein Hubschrauberfoto gefreut, das ihm die Polizei geschickt hat. Unüberschaubare Menschenmengen auf der Wiener Ringstraße. Von Burgtheater über Parlament fast bis zum Naturkundemuseum ist alles mit Menschen gefüllt. Schon um 18 Uhr war kein Durchkommen mehr. Rund 80.000 sind es gewesen, wenn man kalkuliert, dass zwischen zwei und drei Menschen pro Quadratmeter gedrängt standen. Fenninger, Bundesgeschäftsführer der „Volkshilfe“ – das Pendent zur Arbeiterwohlfahrt in Deutschland – ist nicht bloß einer der verschiedenen Organisatoren, sondern derjenige, der diese Manifestation möglich gemacht hat.
Eindringliche Warnung von Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek
Der Aufstand gegen den Rechtsextremismus schwappte in den vergangenen Tagen von Deutschland auf Österreich um. Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek hatte eine große Warnung im Kassandraton geschrieben, die famose Burgtheater-Schauspielerin Mavie Hörbiger hat den Text gelesen. „Ich höre ein Ungeheuer atmen, ich höre, wie der Atem der Demokratie schwächer wird. Ich bin froh, dass sie alle hier sind und ihr neues Leben einblasen wollen. Ich hoffe, es ist nicht zu spät.“
Auch ÖGB, Arbeiterkammern, SPÖ, Grüne und fünfzig andere Organisationen haben am Ende zur Demonstration aufgerufen. Andreas Babler, Vorsitzender der Sozialdemokraten, stand in der ersten Reihe. Ziemlich zeitgleich gingen auch in Salzburg und Innsbruck einige tausend Menschen auf die Straße, in den nächsten Tagen sind Manifestationen in Graz und anderen Städten geplant.
Die FPÖ hat sich zu einer rechtsextremen Partei radikalisiert
In Deutschland waren die Enthüllungen über rechtsextreme Hinterzimmertreffen und von den feuchten Träumen über massenhafte Vertreibungen der berühmte eine Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat – und der beängstigende Aufstieg der AfD in den Umfragen.
Und in Österreich? Anlässe gäbe es hier noch viel mehr. Die FPÖ hat sich in den vergangenen Jahren von einer mehrheitlich rechtspopulistischen zu einer waschechten rechtsextremen Partei radikalisiert. Ihr Anführer Herbert Kickl ist ein fanatischer Radikaler und Hassprediger wie Björn Höcke. Die Parteiführung besteht nur mehr aus Extremisten. Während sich Alice Weidel etwa noch vom „Masterplan für Vertreibung“-Treffen distanzierte und sogar einen Mitarbeiter feuerte, hat die FPÖ die Parole ausgegeben, dass man sich von den Ideologen der Identitären nicht mehr distanzieren würde. Sie wurden als „unterstützenswürdige NGO“ bezeichnet.
Das Potsdamer Geheimtreffen wurde dementsprechend als Zusammenkunft von „Patrioten“ gefeiert. Kader der „Identitären Bewegung“ haben die FPÖ-Jugendorganisation praktisch übernommen, sie sitzen auch in vielen lokalen Parteigruppen, sie ziehen die Fäden in Landtagen und sogar in Landesregierungen und die Mitarbeiterschar im FPÖ-Parlamentsklub ist praktisch ein Käfig voller Narren und Faschisten. Die Konservativen koalieren in drei Bundesländern mit den Extremisten.
Die FPÖ könnte den nächsten Bundeskanzler stellen
Und seit einem Jahr liegt die FPÖ in Umfragen auf Platz eins.
Die Partei könnte mit Herbert Kickl demnächst den Bundeskanzler stellen. Eine Partei, wohlgemerkt, die neben ihrer Extremisten-Gegenwart auch eine beredte Vergangenheit hat. Sie ist eine Gründung ehemaliger NSdAP- und SS-Verbrecher. Ihr erster Parteivorsitzender war Mitglied von Hitlers Reichsregierung und SS-Brigadeführer.
Der Aufstieg der FPÖ und das tägliche Gift, das die Diskurse ruiniert, hat die FPÖ längst normalisiert. Ein Anlass, wie er in Deutschland zum Aufschrei führte, würde in Österreich kaum mehr größere emotionale Aufwallungen auslösen – zu sehr hat man sich daran gewöhnt. Die Stimmung, die zuletzt vorherrschte, war eher eine gewisse Lähmung, Lethargie und sogar Resignation. Die Stimmung, die sich aufbaute, war: Man müsste jetzt endlich beginnen, etwas zu tun.
Der Zündfunke war in Österreich daher eher der Aufstand für die Demokratie in Deutschland. Die Emotion, einerseits: Es ist Zeit, endlich den Arsch hochzubekommen. Und andererseits: Es kann ja nicht sein, dass die Deutschen das hinbekommen, wir aber nicht. Das wäre ja peinlich.
Demos gegen Rechts haben in Österreich Tradition
Österreich hat nicht nur Erfahrungen von bald 40 Jahren Rechtspopulismus, nämlich seit dem innerparteilichen FPÖ-Putsch, der 1986 Jörg Haider an die Parteispitze brachte. Er war dann jahrelang das Rolemodel erfolgreicher „Neuer Rechter“. Es gab immer wieder große Massenmobilisierungen gegen die Politik mit Ressentiments. Höhepunkte: 1993 ein Lichtermehr mit rund 300.000 Menschen gegen ein Anti-Ausländer-Volksbegehren der FPÖ. Im Jahr 2000 dann ebenfalls 300.000 am Heldenplatz gegen die erste Regierungsbeteiligung der FPÖ.
Die Wirkung solcher Manifestationen lässt sich natürlich nicht gut messen. Das Anti-Ausländer-Volksbegehren wurde von rund 400.000 Menschen unterschrieben – gut möglich, dass es ohne Mobilisierung noch mehr unterschrieben hätten. Großdemonstrationen geben den Demokraten Energie, bekämpfen den größten Feind, nämlich die Resignation. Und die Rechtsextremen, die schon glaubten, „das Volk“ stünde hinter ihnen, werden auch beeindruckt, die Mitläufer werden verunsichert.
Welchen Effekt haben die Proteste?
Es gibt Untersuchungen aus Italien, wo Forscher und Forscherinnen anti-rechte Bewegungen in mehreren Regionen studiert haben und anhand der Regionalwahlen 2020 die Effekte analysierten. Fazit: In Städten und Gemeinden, in denen es große Mobilisierungen gegeben hat, gab es eine „Reduktion der Stimmen für die radikale Rechte“ von vier, teilweise bis zu acht Prozent – verglichen mit Städten, in denen es solche Proteste nicht gab. Ähnliche Evidenz brachten Studien über die französische Präsidentschaftswahl 2002 zutage und Forschungen aus Griechenland.
Es sind eine Reihe von Faktoren, die dabei zusammenwirken, so die verschiedenen Untersuchungen. Einerseits gibt es eine „Signalwirkung“, dass rechtsextreme Stimmabgabe sozial in der Gemeinde stigmatisiert ist (was schwankende Mitläufer der Rechten beeindruckt), andererseits etablieren die Proteste „Informationsnetzwerke“, außerdem heben sie die Wahlbeteiligung bei den Gegnern der Rechtsradikalen. Und langfristig werden neue Generationen an Aktivisten „politisiert“, was später langjährige Effekte hat.
Alexander Leistner, Soziologe und Protestforscher von der Universität Leipzig, spricht zudem von „Ansteckungseffekten“, die jetzt bei den Pro-Demokratie-Demonstrationen auszumachen sind, so dass der deutsche Funke jetzt auch auf Österreich übergesprungen ist. Grenzüberschreitende „Ansteckungseffekte“ sind häufig zu beobachten, in der Vergangenheit (man denke nur an die 68er Jahre), aber auch in jüngster Zeit. „Friday for Future“ wurde schnell zu einer globalen Bewegung, und auch die „Black Lifes Matter“-Bewegung, die ja immerhin ihren Ursprungsanlass in mörderischer Polizeigewalt in den USA hatte, sprang auch in europäische Gesellschaften über, in denen die Umstände oft ganz andere sind.