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Warum Helmut Schmidts Handeln Kompass für die Außenpolitik von heute sein kann

Vor 50 Jahren wurde Helmut Schmidt Verteidigungsminister in der sozial-liberalen Koalition unter Willy Brandt. Was bleibt von seinem außenpolitischen Erbe?
von Meik Woyke · 29. Oktober 2019
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In der NATO lässt Donald Trump große Zweifel an der Bündnistreue der USA aufkommen. Der EU wurde in Nordsyrien jüngst wieder einmal außenpolitische Ohnmacht vorgeworfen; und die G7, die Helmut Schmidt 1975 mitgründete, konnte sich 2018 nicht auf eine gemeinsame Abschlusserklärung mit den USA einigen – 2019 kam lediglich ein einseitiges Papier zustande. Derzeit verlieren genau die sicherheits- und außenpolitischen Institutionen zunehmend an Wirkungskraft, für die sich Helmut Schmidt zeitlebens eingesetzt hatte.

Schmidt, der Außen- und Sicherheitspolitiker

Vor 50 Jahren wurde Helmut Schmidt Verteidigungsminister im sozial-liberalen Kabinett Willy Brandts. Schmidt machte sich als Minister und späterer Bundeskanzler einen Namen als versierter Außen- und Sicherheitspolitiker. In seine Amtszeit fielen zunächst eine Phase der Entspannung zwischen den USA und der Sowjetunion mit isolierten Abrüstungsschritten, etwa durch den 1972 unterzeichneten ABM-Vertrag.

Als Bundeskanzler war er später mit einer zunehmenden Bedrohungslage durch die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen in Europa konfrontiert. Nach 13 Jahren als Minister und Bundeskanzler stürzte Schmidt 1982 nicht zuletzt über die Pershing-II-Stationierung – die er befürwortete – und den NATO-Doppelbeschluss, als dessen wichtigster Initiator er gilt. Auf innenpolitischem Feld kam die Hinwendung der FDP zum Wirtschaftsliberalismus als tiefwirkende Ursache für das Ende der sozial-liberalen Koalition hinzu.

Schmidt selbst wertete den NATO-Doppelbeschluss später wiederholt als Grundsteinlegung für den 1987 folgenden INF-Vertrag. Insbesondere seit der Kündigung des Vertrags im August 2019 sprechen viele von einem Déjà-vu einer Sicherheitspolitik, wie Schmidt sie kannte und prägte. In Russland und den USA sind nukleare Modernisierungsprogramme in vollem Gange. Neben diesen atomaren Supermächten investieren auch Staaten mit kleineren Arsenalen in ihre Fähigkeiten, wie China, Indien oder Pakistan. „Der neue Kalte Krieg“ nannte das ZDF daher jüngst seinen Dokumentarfilm über die nukleare Aufrüstung.

Sicherheitspolitik wird von den Staaten dominiert

Es scheint, als bliebe nichts von Schmidts außenpolitischem Erbe. Doch trotz der gegenwärtigen sicherheitspolitischen Herausforderungen gibt es auch große Chancen. Denn das Verständnis darüber, was effektive Sicherheitspolitik ist, wie über globale Sicherheitsfragen geredet wird und wer mitreden darf, hat sich seit Schmidts Amtszeit bedeutend geändert. Das hätte ihm nicht immer gefallen.

Beispiel Zivilgesellschaft: Sicherheitspolitik wird im internationalen Raum gestern wie heute von Staaten dominiert; national finden sicherheitspolitische Diskurse immer noch vornehmlich in Fachforen und zwischen Eliten statt. Dennoch zeigen beispielsweise der Atomwaffenverbotsvertrag von 2017 oder die Ottawa-Konvention zum Verbot von Antipersonenminen von 1997, wie transnationale, nichtstaatliche Organisationen zunehmend sicherheitspolitische Diskurse beeinflussen. Zu diesen überraschend wirkmächtigen Initiativen gehören etwa die mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten Internationalen Kampagnen zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN) und für das Verbot von Landminen.

Die Einflussnahme der Zivilgesellschaft bietet konkrete Chancen für die Lösung globaler Sicherheitsherausforderungen. Erstens sind rechtlich bindende internationale Abkommen immer schwierig zu erreichen – aber durch die Arbeit von Bewegungen wie ICAN können neue sicherheitspolitische Normen etabliert werden, zum Beispiel – wie es das NGO-Bündnis selbst formuliert – „die Ächtung von Atomwaffen auf Grund ihrer verheerenden, humanitären Konsequenzen“.

Ein neues Framing erzwingt politisches Handeln

Zweitens zeigt die Forschung, dass nichtstaatliche Organisationen Sicherheitsrisiken neu framen können, indem sie etwa den Diskurs weg von staatlicher und hin zu humanitärer Sicherheit leiten. Der Atomwaffenverbotsvertrag weist nicht nur auf nationale Sicherheitsinteressen hin, sondern auch auf die katastrophalen Folgen nuklearer Waffen für Umwelt, Menschheit und sozioökonomische Entwicklung. Ein solch neues Framing hat großes Potenzial, dass Themen mehr Aufmerksamkeit bekommen, dass politisches Handeln erzwungen wird oder dass Koalitionen von sicherheitspolitischen Akteuren mit Umwelt- oder Menschenrechtsbewegungen entstehen.

Wie ein Blick zurück in die 1970er Jahre zeigt, hätte Helmut Schmidt eine solche Beteiligung der Zivilgesellschaft skeptisch gesehen. Er pflegte ein traditionelles Politikverständnis, wonach Politik von Parteien und von gewählten Abgeordneten in Parlamenten gemacht wurde. Die politischen Forderungen und innovativen Artikulationsformen der neuen sozialen Bewegungen blieben ihm fremd.

Mit wachsender Sorge betrachtete Schmidt die Proteste auf der Straße gegen Atomrüstung und für mehr Ökologie. Die eindrucksvolle Friedensdemonstration 1981 auf der Hofgartenwiese in Bonn, nahe dem Bundeskanzleramt, interpretierte er in erster Linie als Herausforderung für die freiheitlich-demokratische Grundordnung und das etablierte politische System.

Wachsender Einfluss von Frauen auf die Sicherheitspolitik

Beispiel Frauen: Immer noch sind Frauen in Spitzenpositionen der Außen- und Sicherheitspolitik unterrepräsentiert. Als Schmidt vor 50 Jahren Verteidigungsminister wurde, hatte er international nur eine Kollegin, Sirimavo Bandaranaike in Ceylon. Heute amtieren weltweit 18 Verteidigungsministerinnen, darunter Annegret Kramp-Karrenbauer in Deutschland, Florence Parly in Frankreich und Margarita Robles in Spanien. ICAN wird von der Juristin Beatrice Fihn geleitet, die Kampagne für das Verbot von Landminen von der Menschenrechts-Aktivistin Jody Williams.

Allein die Zahl an Amtsträgerinnen zu erhöhen führt nicht zwangsläufig zu einer friedlicheren Welt – das würde nur Klischees hervorheben, dass Frauen „geborene Friedensstifterinnen“ und Männer tendenziell oder sogar unweigerlich gewaltsam seien. Aber die wachsende Rolle von Frauen in der Sicherheitspolitik kann Entscheidungsprozesse effizienter gestalten, da in diverseren Teams mehr Perspektiven Einfluss nehmen und so mehr Handlungsoptionen zur Auswahl stehen. Die Forschung weist etwa darauf hin, dass sich in männlich-dominierten Teams Organisationskulturen entwickeln können, die nichtmilitärische Konfliktlösungsmechanismen entweder nicht erkennen oder sie als weiblich, naiv und damit inakzeptabel beiseiteschieben.

So dachte Schmidt nicht. Er arbeitete während seiner politischen Karriere mit zahlreichen Politikerinnen von der kommunalen bis zur Bundesebene vertrauensvoll und erfolgreich zusammen. Auffällig ist jedoch seine häufig militärtechnische Sprache, wenn es um die Innere Sicherheit oder verteidigungspolitische Fragenstellungen ging, und seine Betonung der Vertrautheit mit dem soldatischen Habitus.

Bereits in seinem ersten Buch „Verteidigung oder Vergeltung“ aus dem Jahr 1961, das Schmidt als Leitlinie für seine Sicherheitspolitik diente, verwendete er zahlreiche militärische und waffentechnische Termini – einerseits dem Thema durchaus angemessen, andererseits die humanitäre Dimension der Konfrontationsstellung von USA und Sowjetunion im Kalten Krieg ausblendend. Angesichts der Bedrohungsgefühle von Männern wie von Frauen in weiten Bevölkerungskreisen formulierte Schmidt – ganz rational – lediglich politische Antworten.

Die Welt ist komplexer geworden

Beispiel nichtwestliche Akteure: Die Welt ist seit Schmidts Amtszeit komplexer geworden. Die Bipolarität ist längst einer multipolaren Geopolitik gewichen. Neue politische Arenen mit ungewohnten Artikulations- und Protestformen sind entstanden, treffen auf breite öffentliche Resonanz und beleben die Auseinandersetzung in den tradierten Gremien und Institutionen.

Nicht nur mit Blick auf die Rüstungskontrolle bedeutet dies auch ein Erstarken immer durchsetzungsfähigerer, revisionistischer Akteure außerhalb „des Westens“, die über wachsende ökonomische und militärische Kapazitäten verfügen und mit anderen politischen Systemen, Ideologien und Interessen arbeiten, wie China. Immer wieder wird gefordert – auch von US-Präsident Trump – China in ein neues Rüstungskontrollabkommen einzubeziehen. Dies ist jedoch oft ein Vorwand, wie das Friedensgutachten 2019 betont, um ernsthaften Gesprächen aus dem Weg zu gehen.

Schmidt hat die globale Bedeutung Chinas frühzeitig erkannt und Willy Brandt in den ersten Jahren der sozial-liberalen Koalition zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit dem aufstrebenden Staat gedrängt. Selbst an die Regierungsspitze gelangt, war Schmidt im Oktober und November 1975 der erste Bundeskanzler, der China besuchte. Sein China-Bild wies jedoch deutlich erkennbare Ambivalenzen auf: Im Vordergrund standen militärstrategische und vor allem ökonomische Überlegungen.

Schmidts Handeln bleibt aktuell

Die von Peking betriebene Innenpolitik kritisch zu kommentieren, entsprach nicht Schmidts politischer Auffassung von der Souveränität und Autonomie der Staaten. Ebenso bezweifelte Schmidt, dass Russland mit der Annexion der Krim im März 2014 tatsächlich das Völkerrecht gebrochen habe. Immerhin seien die Sicherheitsinteressen des russischen Präsidenten Wladimir Putin durchaus verständlich.

Fraglos hat sich die Sicherheitspolitik in den letzten 50 Jahren stark verändert. Was den Wandel jedoch überlebt hat, sind Helmut Schmidts Verständnis von einem Deutschland, welches in seiner Außen- und Sicherheitspolitik fest in transatlantischen und europäischen Strukturen verankert ist und Werte wie Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit in der Welt vertritt – das ist in Deutschland heute längst breiter politischer Konsens. Helmut Schmidts Handeln als überzeugter Europäer und Multilateralist bleibt somit aktuell und bietet einen hilfreichen Kompass für zukünftige Konfliktlagen.

Der Text erschien zuerst im IPG-Journal.

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Autor*in
Meik Woyke

ist Vorstandsvorsitzender und Geschäftsführer der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung; bis Juni 2019 leitete er das Referat Public History im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung. Er hat im Verlag J.H.W. Dietz Nachf. den Briefwechsel von Willy Brandt und Helmut Schmidt herausgegeben (2015) und für den Reclam Verlag eine kompakte Schmidt-Biografie (2018) geschrieben.

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