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Warum das Scheitern der Balkan-Politik der EU so gefährlich ist

Die Hinhaltetaktik der EU in Südosteuropa schwächt das progressive, demokratische Lager. Nationalistische und autokratische Kräfte profitieren. Und Russland. Es ist Zeit aufzuwachen.
von René Schlee · 10. November 2021
Die EU hält ihre Zusagen nicht ein: EU-Erweiterungskommissar Oliver Varhelyi (r.) beim Empfang in Nordmazedonien durch Ministerpräsident Zoran Zaev (l.) in 2020
Die EU hält ihre Zusagen nicht ein: EU-Erweiterungskommissar Oliver Varhelyi (r.) beim Empfang in Nordmazedonien durch Ministerpräsident Zoran Zaev (l.) in 2020

Überraschend kündigte Zoran Zaev am 31. Oktober seinen Rücktritt als Premierminister Nordmazedoniens und Vorsitzender der sozialdemokratischen Partei SDSM an. Anlass war die zweite Runde der Kommunalwahlen, bei denen seine Partei deutliche Verluste erlitt und mehr als die Hälfte der Kommunen einbüßte. Warum knüpft ein Premierminister sein politisches Schicksal an den Ausgang einer Kommunalwahl – genauer gesagt an die Bürgermeisterwahl der Hauptstadt Skopje? Nur vordergründig sind die letzten Wahlen das Motiv für den Rücktritt. Tatsächlich ist dieser jedoch der persönliche Schlussstrich von Zoran Zaev, der sein politisches Wirken in den Dienst der europäischen Integration gestellt hatte und bitter enttäuscht wurde.

Indem sie 2019 den jahrzehntelang schwelenden Namensstreit zwischen Griechenland und Nordmazedonien beigelegt hatten, hatten sich Zaev und sein griechischer Amtskollege Alexis Tsipras internationale Anerkennung erworben. Doch auch drei Jahre nach dem Prespa-Abkommen, das die Grundlage für die Normalisierung der Beziehungen zwischen Griechenland und Nordmazedonien legte, war es Zaevs Regierung nicht gelungen, die Früchte der weitreichenden Zugeständnisse, allen voran die Änderung des Landesnamens, zu ernten. Der versprochene Beginn der offiziellen EU-Beitrittsgespräche wird seit rund einem Jahr durch Bulgarien blockiert, ohne Perspektive auf eine schnelle Einigung.

Die Pro-Europäer werden geschwächt

Mit dem Stillstand des EU-Beitrittsprozesses verlor Zaevs pro-europäische Regierung nach den politischen Kraftakten der letzten Jahre wichtiges politisches Kapital. Die Beitrittsverhandlungen waren von Beginn an als klare Priorität der progressiven Regierung formuliert und das Hauptziel ihrer Arbeit. Dass bei der Kommunalwahl viele von den Sozialdemokraten enttäuschte Wählerinnen und Wähler nicht erschienen, hängt somit in starkem Maße auch mit der fehlenden Erfolgsbilanz im Kernthema EU-Annäherung zusammen. Und es bleibt der Eindruck, dass eigentlich die falsche Person zurückgetreten ist.

Zaevs Schritt ist letztlich die Konsequenz einer gescheiterten Hinhaltetaktik in Brüssel, einer mittlerweile mehrjährigen, effektiven Lähmung der EU-Erweiterungspolitik in Südosteuropa. Die aktuelle Situation legt drei Probleme offen, zu denen die Unentschlossenheit der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union geführt hat.

Die EU hält ihre Zusagen nicht mehr ein

Erstens: Die EU hat ein Glaubwürdigkeitsproblem. Der der EU-Erweiterung zugrundeliegende Tausch ist einfach: Reformen gegen Beitrittsperspektive. Problematisch ist, dass die EU ihren Teil der Vereinbarung nicht mehr einhält. Wie am Beispiel Nordmazedoniens deutlich wird, reicht der Konsens innerhalb der EU für die bewährte Formel „Fortschritte beim Beitritt gegen Reformen“ nicht mehr aus. Nachdem sich zunächst Frankreich, die Niederlande und Dänemark gegen den Beginn offizieller Beitrittsgespräche mit Albanien und Nordmazedonien ausgesprochen hatten, beraumte Zaev Ende 2019 Neuwahlen an, um sich seines politischen Mandats zu versichern. Er erhielt es mit knappem Ausgang. Schon damals hätte allen Beteiligten klar sein müssen, wie fragil die politische Legitimität in Nordmazedonien für weitere Reformschritte war. Frankreichs Veto konnte erfolgreich wegverhandelt werden. Eine neue Blockade kam kurz danach – diesmal von Bulgarien. Man könne den Beginn der Beitrittsgespräche nicht zulassen, da die mazedonische Landessprache lediglich ein bulgarischer Dialekt sein.

Von EU-Anwärterstaaten werden eine Menge Reformen verlangt, um sich den Werten, der Gesetzgebung und den Standards der EU anzupassen. Im Falle Nordmazedoniens wurde im Zuge des Prespa-Abkommens sogar der Landesname geändert. Von der Oppositionspartei VMRO wurde Zaev für das Abkommen heftig attackiert. Er mache substanzielle Zugeständnisse und am Ende werde die EU ihn doch hängen lassen, wurde ihm vorgeworfen. Die VMRO konnte nun tatsächlich bei den Kommunalwahlen große Zugewinne verbuchen. Die Ergebnisse seien eine Strafe der Wähler für Zaevs Ausverkauf nationaler Interessen, verkündeten VMRO-Offizielle.

Autokraten werden gestärkt, Demokraten unter Druck gesetzt

Zweitens: Es handelt sich um ein wiederkehrendes Muster in der Erweiterungspolitik. Das derzeitige Vorgehen der EU stärkt die Falschen. Reformer werden nicht gewürdigt und stattdessen unter Druck gesetzt. Dagegen werden Regimes mit zunehmend autokratischen Zügen, wie etwa Alexander Vucic in Serbien, von Macron, Merkel und von der Leyen hofiert. Durch diese Politik werden progressive Kräfte in den Hintergrund gedrängt und autokratische Nationalisten übernehmen das Ruder. Stillstand und Perspektivlosigkeit verschärfen die gesellschaftliche Polarisierung und bieten demagogischen Politikern die Möglichkeit, die Bevölkerungen über das Bespielen von religiösen und ethnischen Konfliktlinien zu mobilisieren.

Drittens offenbaren die aktuellen Entwicklungen den Fehler im strategischen Kalkül gerade der westeuropäischen EU-Mitgliedsstaaten. Die von der Bevölkerung der Balkanstaaten als zutiefst ungerecht empfundene EU-Politik lässt die Popularität des europäischen Projekts dahinschmelzen. Vor diesem Hintergrund ist es Russland und anderen Akteuren ein Leichtes, als Alternative zur europäischen Ordnungsmacht zu erscheinen, die schnelle Kooperation ohne langwierige Abstimmungsprozesse bereitstellt. Die Politik der Impflieferung im vergangenen Jahr ist hierfür exemplarisch. Russland lieferte früh den selbstentwickelten Impfstoff Sputnik an Serbien. Viele Nordmazedonier nutzten die Impfmöglichkeit in Serbien über familiäre Verbindungen. Solche Erfahrungen prägen sich in der Bevölkerung ein. Da nützt es am Ende nichts, wenn die europäischen Institutionen Infografiken produzieren, die detailreich erläutern, dass man viel mehr und substanzielle Hilfe bereitgestellt habe, wenn diese letztlich nicht zu greifen ist. Die Regierungen und die Bevölkerung im Westbalkan messen die EU an konkreten Zusagen zu ihren Kernanliegen. Im Kosovo ist dies die versprochene Visa-Liberalisierung, in Albanien und Nordmazedonien der Beginn der offiziellen Beitrittsgespräche. Alles andere wird ein Trostpreis bleiben. Die Perspektive der EU-Integration verliert an Strahlkraft in der Region: nicht weil der Ruf Moskaus verlockender klänge, sondern weil die Menschen die EU zunehmend für unerreichbar halten. Wie aktuell die Abspaltungsrhetorik von Präsident Dodik in Bosnien-Herzegowina mit Blick auf die Republika Srpska zeigt: Die Brüsseler Hinhalte-Taktik ist ein gefährliches Spiel.

EU schafft Machtvakuum, das andere nutzen

Welche Konsequenzen hat dies für das europäische Projekt? Ordnungspolitisch war der Westbalkan einmal so etwas wie ein Vorzeigeprojekt der EU. Konflikte konnten – wenn nicht gelöst – so doch zumindest angesichts der Perspektive einer gemeinsamen, verheißungsvollen Zukunft in den Hintergrund gedrängt werden. Es braucht nicht einmal einen Strategiewechsel, sondern nur politischen Willen, bereits getroffene Entscheidungen umzusetzen. Um die verfahrene Lage aufzulösen muss zunächst das bulgarische Veto beendet werden. Dabei geht es nicht um das Finden neuer Anreize für Bulgarien oder das Eingehen auf legitime Bedenken Sofias. Es geht um die Glaubwürdigkeit der EU selbst, um die Einhaltung von Zusagen. Der europäische Rat muss unter den Mitgliedern eine entsprechende Einigung herstellen.

Die derzeitige Politik wird dem Anspruch eines handlungsfähigen, souveränen Europas, das unabhängig von anderen Großmächten oder regionalen Machthabern handelt, nicht gerecht. Nirgendwo sonst ließe sich ein solcher Anspruch mit so geringem Mitteleinsatz verwirklichen wie auf dem Westbalkan. Sollte Europa weiterhin den Weg der Nicht-Entscheidung wählen, wird dieses Vakuum gefüllt werden. Es ist Zeit aufzuwachen.

Dieser Text erschien zuerst im ipg-journal.

Autor*in
René Schlee

ist Büroleiter der Friedrich-Ebert-Stiftung im Kosovo. 

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