Wahl in Schweden: „Kopf-an-Kopf-Rennen mit hauchdünnen Mehrheiten“
IMAGO/Dean Pictures
Vor dem Hintergrund des russischen Kriegs in der Ukraine und dem Ratifizierungsprozess für den NATO-Beitritt findet am Sonntag in Schweden die Parlamentswahl statt. Welche Rolle hat die Außenpolitik im Wahlkampf gespielt?
Keine. Die Debatte über den NATO-Beitritt wurde vor dem Sommer abgehakt. Ohnehin waren sich darin fast alle Parteien einig. Im Wahlkampf ging es um langfristige, innenpolitische Probleme, um die Gesundheits-, Bildungs-, und Rentenpolitik und um die innere Sicherheit. Aber auch Aktuelles bewegte die Öffentlichkeit, wie die Energiepolitik und die Inflation. Die Oppositionsparteien haben versucht, die Aufmerksamkeit stets auf ihre Anliegen zu ziehen, wie etwa die Migration. Die rechtsradikalen Schwedendemokraten dominierten darüber hinaus die Diskussionen im Netz und übten in öffentlichen Debatten den Schulterschluss mit dem bürgerlich-konservativen Block. Den Medien gefiel diese Zuspitzung natürlich.
Die Schwerpunkte der Sozialdemokraten im Wahlkampf waren eindeutig: die Überwindung der sozialen Spaltung Schwedens – die nach ihrer Auffassung rassistische und wirtschaftliche Gründe hat – die Schaffung grüner Jobs und ein nachhaltiges inklusives Wirtschaften zu ermöglichen, sowie die Kontrolle über den schwedischen Wohlfahrtsstart wieder zu erlangen. Sie rückten jedoch – auch durch kleine Wahlkampffehler – eher in den Hintergrund.
In den Umfragen liegen die Sozialdemokraten mit Magdalena Andersson an der Spitze dennoch vorn. Wird es für den Wahlsieg reichen?
Das hoffe ich doch. Die pragmatische kluge Andersson ist die erste Frau an der Spitze Schwedens. Sie ist, über die Parteigrenzen hinweg, beliebt. Seit 2012 hat kein Premier ihre Zustimmungswerte erreicht. Sie liegen bei mehr als 50 Prozent. Wäre es eine Präsidentschaftswahl – Magdalena Andersson hätte sie schon gewonnen. Ob sich der „Magdalena Effekt“ genannte Aufwind auch in der Parteienwahl wiederspiegelt, muss sich nun zeigen. Die Sozialdemokraten liegen in den Umfragen konstant zwischen 25 und 30 Prozent. Die Herausforderer der Moderaten bei um die 20 Prozent, auch die Schwedendemokraten um die 20. Die restlichen fünf Parlamentsparteien erreichen dagegen nur einstellige Werte. Die beiden möglichen Koalitionsformationen – mitte-links um die Sozialdemokraten und mitte-rechts um die „Konservativ-Bürgerlichen“ – könnten rein rechnerisch derzeit gleich stark werden. Aktuell wechselt der Vorsprung von Tag zu Tag. Beide Blöcke liefern sich ein nervenzerreibendes Kopf-an-Kopf-Rennen mit hauchdünnen Mehrheiten.
Dabei könnten die Schwedendemokraten (SD) erstmals die zweitstärkste Kraft werden. Was macht sie so erfolgreich?
Im Gegensatz zu anderen Populisten sind die SD eine ethnonationalistische Partei, verwurzelt in der schwedischen rechts-radikalen Neonazi-Bewegung. Sie pflegen Kontakt zu deren militaristischem Arm und zu rechten Bewegungen in ganz Europa. Seit ihrem Parlamentseinzug 2010 modernisieren sie sich. Sie entwickeln sich weiter. Kader wurden ausgetauscht, die Skandale nahmen trotzdem nicht ab. Ihr Wahlergebnis hat sich bei jeder Wahl verdoppelt.
Die Ursachen sind unterschiedlich. Viele Schwed*innen sind unzufrieden. Menschen mit niedrigem Einkommen und Ausbildungsniveau und in einkommensschwachen Gegenden finden, dass das Land sich in die falsche Richtung entwickelt. Die SD sind das Sammelbecken für diese Unzufriedenheit, weshalb sie zu Unrecht in manchen Politikfeldern bei einigen als links gelten. Statt auf die wirtschaftlichen und sozialen Lösungsmöglichkeiten der komplexen sozio-ökonomische Lage einzugehen, sucht sie sich einen Sündenbock: Mit ihrer radikalen Migrationspolitik kanalisiert sie ihre gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit.
In diesem Wahlkampf gibt es jedoch noch einen zweiten gewichtigen Grund für die guten Umfragewerte: Im Unterschied zur letzten Wahl haben sich die konservativ-bürgerlichen Parteien nicht mehr gegen eine Zusammenarbeit mit den SD ausgesprochen, sondern nehmen ihre Unterstützung an. Dieser Dammbruch hat die SD bereits im letzten Jahr, als der Block gemeinsam seinen Haushaltsentwurf gegen die frisch gewählte Ministerpräsidentin Andersson durch setzte, salonfähig und somit weitaus wählbarer gemacht.
Was bedeutet das für die Regierungsbildung?
Alle rechnen mit einer ähnlich schwierigen Koalitionsbildung wie 2018. Vor allem, wenn die Schwedendemokraten deutlich vor den Moderaten liegen sollten. Dann wird sich das Klima im Parlament ändern. Sie hätten dann die inoffizielle Rolle der wichtigsten Oppositionspartei. Sollte es zu einer konservativen Regierung kommen, die sich von ihnen unterstützen oder tolerieren ließe, könnten sich die Schwedendemokraten in der Rolle der Königsmacher wiederfinden. Der Druck ihrer Forderungen würde immens ansteigen. Auch wenn eine direkte Zusammenarbeit in Form von Ministerämtern von den bisherigen Parteiführungen ausgeschlossen wird, könnte sich das etwa nach sehr hohen Verlusten und daraus resultierenden Wechseln in der Parteispitze der Moderaten vielleicht aber auch schnell ändern.
Das Interview wurde schriftlich geführt.
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Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.