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Umgang mit Russland: Drei Punkte für eine erfolgreiche Strategie

Der Westen könne es sich nicht erlauben, eine zukünftige Politik gen Osten auf Wunschdenken aufzubauen, meint Reinhard Krumm von der Friedrich-Ebert-Stiftung. Er nennt drei Punkte für eine erfolgversprechende Russlandpolitik.
von Reinhard Krumm · 16. Dezember 2022
Wie kann eine künftige Politik in und mit Russland aussehen?
Wie kann eine künftige Politik in und mit Russland aussehen?

Die Wahrheit lässt sich klar und knapp zusammenfassen. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ist verheerend für die Ukraine, schlecht für Russland und gut für den Westen (also die EU und die USA) – im Sinne, dass der Krieg Russland schwächt und die sicherheitspolitische Bedrohung reduziert. Einer der kenntnisreichsten US-amerikanischen Militärexperten drückte die Gemengelage mit einem so ungewöhnlichen wie prägnanten Ausspruch aus: „Give war a chance.“ Zum einen, weil das auch der Wunsch der ukrainischen Führung ist, zum anderen, weil jede Verlängerung des Krieges das russische Militär mehr und mehr schwächt. Jede „zu früh“ anberaumte Friedensinitiative hätte deshalb paradoxerweise den unerwünschten Effekt, dass vor allem Moskau schnell wieder aufrüsten könnte.

Umgang mit Russland, wenn der Krieg vorbei ist?

So weit, so nachvollziehbar. Jedoch türmen sich auf dieser klaren Einsicht viele Hoffnungen und Wünsche in Bezug auf die Zukunft Russlands. Sie vernebeln bisweilen mehr, als dass sie dabei helfen, zu klären, wie mit Russland als Konkurrent und Gegner umzugehen ist. Doch eine zukünftige Strategie muss alle Möglichkeiten ausloten: Neben den wünschenswerten auch diejenigen, die einem aufgrund der täglichen Berichte und Bilder aus der Ukraine unerträglich erscheinen. Denn es ist kaum zu erwarten, dass, so wie nach der Covid-Pandemie erhofft, auch nach dem irgendwann erfolgenden Ende des russischen Angriffskrieges die Welt ganz neu vermessen wird und plötzlich internationale Beziehungen ganz anderen Regeln folgen.

So heißt es auf Konferenzen und Hintergrundgesprächen in EU-Hauptstädten in Ost und West, dass ein Vertrag hermüsse, damit Russland zur Verantwortung zu ziehen ist, um für die verursachten Schäden haftbar gemacht zu werden. Moskau habe Verantwortung zu übernehmen für den Angriffskrieg, die Verbrechen und die Zerstörungen in der Ukraine. Alles richtig. Als Form und Beispiel wird dann bisweilen der Versailler Vertrag vorgeschlagen. Aber: Soll eine wie auch immer geartete europäische Nachkriegsordnung allein auf Rache basieren? Gerade Deutschland kennt die Folgen jenes Vertrages. Und übrigens auch die Alliierten, die nach dem Zweiten Weltkrieg den unterstützenden Marschall-Plan wählten, nicht den zerstörerischen Morgenthau-Plan, der Deutschland zu einem Agrarland degradiert hätte. Die Nürnberger Prozesse gab es trotzdem.

Europa und die EU müssen Vertrauen wieder aufbauen

Gewünscht wird auch ein Wechsel der russischen Führung und deren Bestrafung vor einem internationalen Gericht. Letzteres ist sicherlich anzustreben. Aber wie soll von außen ein neues Regierungssystem, idealerweise eine Demokratie westlichen Zuschnitts, vorangebracht werden? Warum sollte dieser epochale Wandel gerade jetzt im Moskowiter Reich gelingen, wo er doch bereits zu Beginn der Neunzigerjahre nicht gelang, als die Rahmenbedingungen deutlich besser waren? Damals stand der heute in Russland heftig kritisierte Westen sowohl beim Staat als auch bei der Gesellschaft zumeist in höchstem Ansehen.

Und schließlich fordern manche, Russland solle den ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat verlieren. Am besten gleich zusammen mit China. Und das gerade zu einer Zeit, wo Staaten des Globalen Südens an wirtschaftlicher und militärischer Stärke gewinnen. Wo nicht wenige von ihnen sich bei Abstimmungen der UN gegenüber Russland der Stimme enthalten haben. Europa und die USA müssen sich verabschieden von der Überzeugung, internationale Politik mehr oder weniger problemlos ordnen zu können wie in den letzten Jahrzehnten. Gerade im Verhältnis zu den großen aufstrebenden Industriestaaten im Globalen Süden bedarf es großer Anstrengungen, Vertrauen wiederaufzubauen.

Melange aus realistischer und wünschenswerter Perspektive

Wie könnte also ein erfolgversprechender Ansatz aussehen? Vermutlich braucht es eine Melange aus alledem, also aus realistischer und aus wünschenswerter Perspektive. Schließlich leben wir ja in einer Zeitenwende, und da scheint vieles möglich zu sein. Derzeit werden Gedankenspiele jeglicher Art initiiert und Zukunftslaboratorien zur Verfügung gestellt. Doch trotz aller Bemühungen, das Wünschenswerte umzusetzen, weil es den eigenen Vorstellungen entspricht, gerecht ist und internationalen Normen entspricht, kommt die Politik nicht umhin, die zunehmenden Einschränkungen der eigenen Wirkmächtigkeit zu beachten.

Und im Zusammenhang mit Russland sind das vor allem die folgenden drei Punkte, die es zu beachten gibt. Die Nennungen sind nicht als Aufruf zum Beginn von Verhandlungen zu verstehen. Sie sollen auch nicht Russland größer wirken lassen, als es tatsächlich ist. Und vor allem nicht als Zeichen an Kiew, dass die Interessen Russlands höher zu bewerten sind als die der Ukraine. Sondern als Erinnerung, dass wir uns von der eigenen Kraft nicht blenden lassen dürfen. Schwachstellen im eigenen System lassen sich nicht wegignorieren und durch Wunschdenken ersetzen.

Volle und ehrliche Unterstützung für Georgien, Moldau und die Ukraine

Erstens: Eine nukleare Eskalation ist schwer zu kontrollieren. Trotz aller Beschwichtigungen, dass der Einsatz von Nuklearwaffen in keinerlei Interesse sei. Obwohl der russische Präsident ein rational denkender Politiker ist (eine Eigenschaft, die ihm oft abgesprochen wird), ist dieser Ernstfall eben nicht mehr auszuschließen. Zumal die russische Militärlage und deren Erfolgsaussichten eher trübe sind, gleichzeitig aber aus russischer Perspektive alles andere als ein Sieg nicht vorstellbar ist. Hinzu kommt, dass Russlands Stabilität insgesamt ins Wanken geraten könnte. Im Gegensatz zum Ende der Sowjetunion, als der Westen die Stabilität der Sowjetunion bisweilen als wichtiger einschätzte als die Unabhängigkeit ihrer Republiken, wird die Gefahr einer implodierenden Atommacht mit völlig unklarem Ausgang nun als eher unwahrscheinlich angesehen. Dabei ist dieses Szenario nicht völlig von der Hand zu weisen. 

Zweitens: Insbesondere die drei Staaten mit einem Assoziierungsabkommen mit der EU, also Georgien, Moldau und die Ukraine, müssen nicht nur die Perspektive, sondern die volle und ehrliche Unterstützung der EU haben, sicher, stabil und wohlhabend zu werden. Dabei ist unter Wohlstand neben einem ordentlichen Einkommen auch soziale Unterstützung zu verstehen, sowohl durch eine Krankenversicherung als auch bei der Altersversorgung. Bei Vertragsabschlüssen muss zudem Rechtssicherheit gewährleistet sein. Diese Staaten befinden sich seit 1991 in einer fast permanenten Transformation. Doch wie soll diese hoffentlich letzte Etappe umgesetzt werden, wie sollen westliche Investitionen in die Länder kommen, ohne ein belastbares Verständnis mit Russland zu haben, dass diese unabhängigen Staaten souverän sind und entsprechend handeln können? Eine vielleicht unverschämte Frage. Aber eine Antwort ist dringend notwendig.

Der Westen wird nicht alles richten können

Drittens: Der Westen wird nicht mehr alles richten können. Auch wenn es sich für Sozialdemokrat*innen eigentlich nicht geziemt, den preußischen Kanzler Otto von Bismarck in eigener Sache zu zitieren, so lohnt es sich freilich in diesem Zusammenhang: Er verwies in seiner Regierungszeit immer wieder darauf, dass in einer instabilen Welt, deren Gleichgewicht von fünf Mächten abhängt, Deutschland immer versuchen sollte, Teil eines Dreierbundes zu sein, gegen den schwer anzukommen sei. Die heutige Unsicherheit hat auch damit zu tun, dass die EU, von Deutschland ganz zu schweigen, nicht mehr über den Einfluss in solchen Machtkonstellationen verfügt. Und dass die USA als tatsächlich große Macht ebenfalls in der Minderheit sind, wenn man den Blick weitet und neben China und Russland (dessen Status mit vielen Fragezeichen bedacht werden muss) auch noch Indien und weitere Regionalmächte betrachtet. Für die Politik stellt sich die Frage, wie mit China wirtschaftlich und mit Russland militärisch auf längere Sicht zu konkurrieren ist, ohne die eigene Konkurrenzfähigkeit einzubüßen.

Trotz der offensichtlichen Unfähigkeit Russlands, den ursprünglichen Plan der Eroberung der Ukraine umzusetzen, und trotz der Gräueltaten des Angriffskrieges sowie der unerträglichen Lügen des Kreml können es sich westliche Expert*innen und Politiker*innen nicht erlauben, eine zukünftige Politik gen Osten auf Wunschdenken aufzubauen. Dazu gehört auch, ein neues Russland am gut aufgeräumten Schreibtisch mit heller Arbeitslampe zu entwerfen.

Am 13. Dezember erschienen im IPG-Journal.

Autor*in
Reinhard Krumm

ist Leiter des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in Washington.

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