International

Ukraine-Annexionen: Was das Votum der UN-Vollversammlung bedeutet

Die Weltgemeinschaft stellt sich in der UN-Vollversammlung mit großer Mehrheit gegen die Annexion der Ostukraine. Doch entscheidend ist wieder einmal, wer sich enthält. Für einen Ausweg aus dem Krieg könnte das noch entscheidend werden.
von Michael Bröning · 13. Oktober 2022
Klares Ergebnis: 143 Staaten verurteilten in der UN-Vollversammlung Russlands Annexionen in der Ukraine.
Klares Ergebnis: 143 Staaten verurteilten in der UN-Vollversammlung Russlands Annexionen in der Ukraine.

Am Mittwoch richtete sich die Aufmerksamkeit der Welt einmal mehr auf die Vereinten Nationen in New York. Denn dort debattierte die UN-Vollversammlung eine Resolution, die die Annexionen Russlands in der Ukraine und die zuvor durchgeführten Scheinreferenden verurteilt und für nichtig erklärt. Insgesamt 143 der 193 UN-Mitglieder stimmten für die Resolution mit dem Titel „Territoriale Integrität der Ukraine: Verteidigung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen“. Lediglich fünf Staaten votierten dagegen: Russland, Belarus, Nordkorea, Nicaragua und Syrien. Nach der Annahme kam es zu einem Beifallssturm.

Vorausgegangen war der Abstimmung nicht nur intensive Überzeugungsarbeit auf den Korridoren der Vereinten Nationen, sondern auch klassische Reisediplomatie nicht zuletzt durch das Außenministerium der Ukraine. Das Ziel: Gerade afrikanische Staaten zu einer klareren Positionierung zu bewegen. Ebenfalls der Abstimmung vorgeschaltet war ein letzlich erfolgloser Versuch Russlands, die Stimmenabgabe anonym durchzuführen – ein leicht durchschaubarer Versuch, öffentlichen Druck auf das eigene Lager zu reduzieren.

Drei Staaten ändern ihre Meinung

Auf den ersten Blick scheint das Ergebnis eindeutig. Die erzielten 143 Stimmen sprechen eine klare Sprache. Und auch verglichen mit vorangegangenen Ukraine-Resolution konnte das Lager der Russlandkritiker wichtigen Zuwachs verzeichnen. Anfang März hatte die Versammlung mit 141 zu fünf Stimmen bei 35 Enthaltungen den sofortigen Abzug aller russischer Truppen gefordert. Am 24. März stimmte sie mit 140 zu fünf Stimmen bei 38 Enthaltungen für eine Resolution, die Russland für die humanitäre Krise in der Ukraine verantwortlich macht.

Am Mittwoch nun änderten Bangladesch, der Irak und Marokko ihre Haltung. Sie hatten sich zuvor entweder der Stimme enthalten oder waren der Abstimmung ferngeblieben.

Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Stimmen aus der Ukraine aber auch aus den Vereinigten Staaten das Votum enthusiastisch begrüßten. US-Präsident Joe Biden erklärte, die Welt sei „einiger und entschlossener denn je, Russland zur Rechenschaft zu ziehen“. Die amerikanische UN-Botschafterin Linda Thomas-Greenfield sprach gar von einem „monumentalen Tag für die Vereinten Nationen“, während der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj den Beschluss als historisch einmalig lobte: „Die Welt hat das Wort ergriffen – der Annexionsversuch Russlands ist wertlos“. Auch in deutschen Medien wurde das Ergebnis als eindeutiger Sieg der guten Sache bewertet:  „Fünf Länder gegen den Rest der Welt“ lautete eine bezeichnende Schlagzeile.

Kein Erdrutschsieg für die Ukraine

Natürlich ist es keine Petitesse, dass sich eine so deutliche Mehrheit der UN-Mitgliedstaaten klar für die Verteidigung der Prinzipien der UN-Charta und der Unverletzlichkeit von Grenzen positioniert – selbst wenn die Resolution völkerrechtlich nicht bindend ist. Doch zur Wahrheit gehört auch: Das Ergebnis ist bei genauerer Betrachtung alles, aber kein Erdrutschsieg für die Ukraine. Denn entscheidend ist nicht nur, welche Staaten die Resolution unterstützen, sondern auch und gerade die Frage, welche Staaten sich eben nicht explizit dahinter stellten. Und hier ist die Liste trotz erschreckende Bilder aus der Ukraine anhaltend lang.

Die insgesamt 35 Enthaltungen umfassen dabei nicht nur Staaten, die aufgrund von Abhängigkeiten von Russland eine Positionierung vermeiden wollten, sondern auch Machtzentren, deren Enthaltung augenscheinlich auf eine andere Sicht auf den Krieg schließen lässt – etwa in Algerien, Äthiopien, Pakistan oder Thailand. Zu den 35 Ländern, die sich enthielten, zaehlen dabei insgesamt 19 aus Afrika, darunter Südafrika, aber eben zugleich nach wie vor China und Indien, die beiden bevölkerungsreichsten Länder der Welt.

Insbesondere bezeichnend ist dabei, dass US- und EU-Diplomaten eine intensive Lobbykampagne gerade gegenüber Indien und Südafrika gestartet hatten, es jedoch offensichtlich nicht schafften, eine Stimmenänderung zu erzielen. Doch auch hier ist das Bild nicht so eindeutig, wie es scheint. 

Ein diplomatischer Ausweg aus dem Krieg

Denn insbesondere in Neu-Delhi und Beijing wurde das Stimmverhalten zumindest in öffentlichen Verlautbarungen eben nicht als stillschweigendes Einverständnis mit Russland präsentiert. Das indische Außenministerium etwa verknüpfte das Votum mit einem dezidierten Ruf nach einem sofortigen Waffenstillstand und betonte die Hoffnung auf ein baldiges Einsetzen von Friedensgesprächen. So erklaerte die indische UN-Botschafterin Ruchira Kamboj „Der Weg zum Frieden erfordert, dass wir alle Kanäle der Diplomatie offen halten.

Der chinesische UN-Botschafter hingegen erläuterte die Haltung seines Landes in einer ausführlichen Erklärung und betonte die Bereitschaft Chinas, „eine konstruktive Rolle“ einzunehmen.

Eine solche Haltung mag aus westlicher Perspektive schwer zu verdauen sein. Doch bei aller verständlichen Enttäuschung ist daran zu erinnern, dass womöglich gerade Staaten mit einer ambivalenten Position in der komplexen Lage eine Rolle zu spielen haben. Denn in der aktuellen Situation muss es nicht nur darum gehen, die Ukraine zu unterstützen, sondern auch darum, endlich einen diplomatischen Ausweg aus der Eskalation zu finden. Dabei aber könnten gerade Staaten wie Indien und China eine wichtige Rolle spielen, die durch ihr Votum nicht erschwert, sondern vielleicht erst ermöglicht wurde.

Autor*in
Michael Bröning

leitet das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in New York und ist Mitglied der SPD-Grundwertekommission. Zuletzt erschien vom ihm „Vom Ende der Freiheit. Wie ein gesellschaftliches Ideal aufs Spiel gesetzt wird“ (Dietz 2021).

0 Kommentare
Noch keine Kommentare