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So erinnert Polen heute an den 8. Mai 1945

Für Polen ist das Gedenken an den 8. Mai ambivalent: 1945 endete der verheerendste Krieg seiner Geschichte, und es begann eine neue Phase der Fremdherrschaft. Für die polnische Regierungspartei PiS ist Putins Russland heute schlicht der Feind.
von Ernst Hillebrand · 5. Mai 2020
Die Erinnerung an die Geschichte spielt in Polen eine große Rolle: Eines der symbolträchtigsten Gebäude dafür ist das nach dem Zweiten Weltkrieg komplett wiederaufgebaute Königsschloss in Warschau.
Die Erinnerung an die Geschichte spielt in Polen eine große Rolle: Eines der symbolträchtigsten Gebäude dafür ist das nach dem Zweiten Weltkrieg komplett wiederaufgebaute Königsschloss in Warschau.

In Polen ist der 8. Mai kein gesetzlicher Feiertag. In den Jahrzehnten der Volksrepublik war der 8. Mai – obwohl kein arbeitsfreier Tag - einer der wichtigsten Staatsfeiertage gewesen. Er diente zugleich der Beschwörung des Gedächtnisses an die millionenfachen Opfer des deutschen Besatzungsregimes wie der Rolle der Sowjetunion bei der Befreiung Polens. Staatliche Erinnerungskultur und Propaganda konzentrierten sich auf den Sieg über das nationalsozialistische Deutschland und den polnischen Beitrag an diesem Sieg an der Seite der Roten Armee. Tatsächlich stellten polnische Soldaten 10 Prozent der Truppen, die an der Schlacht um Berlin beteiligt waren. Nach dem Sieg wurde von diesen Soldaten die polnische Fahne auf der Siegessäule und dem Brandenburger Tor gehisst.

Zwischen Befreiung und Unterdrückung

Nach der Implosion des Staatssozialismus 1990 wurde die politische und gesellschaftliche Ambivalenz dieses Datums im öffentlichen Diskurs immer stärker thematisiert: Einerseits bleibt der 8. Mai das Symboldatum des Endes des schrecklichsten aller Kriege in der polnischen Geschichte, in dessen Verlauf ca. 17 Prozent  der Bevölkerung des Landes ihr Leben verloren – in den Vernichtungs- und Arbeitslagern, als Arbeitssklaven in der deutschen Kriegswirtschaft, verhungert oder schlicht willkürlich ermordet. Andererseits markiert er aber auch den Beginn einer neuen Periode der Fremdbestimmung, als im Schatten der Truppenpräsenz der Roten Armee dem Lande eine neue staatssozialistische Identität aufgezwungen wurde.

Diese Ambivalenz des Datums wurde nun im öffentlichen Diskurs von allen politischen Lagern betont. Hinzu kam die neue politische Grundkonstellation nach dem Fall des Eisernen Vorhangs:  Die von der neuen politischen Elite angestrebte Nato- und EU-Integration Polens sollte nicht von der Geschichte und einem belasteten Verhältnis zu Deutschland behindert werden. Nicht Erinnern, sondern, wie es bereits die polnischen Bischöfe in ihrem Brief von 1965 an ihre deutschen Amtsbrüder geschrieben hatten, „Vergessen“ war als Bedingung der Versöhnung angesagt. Aufgrund der Ambivalenz des Mai-Datums wurden andere Daten in der nationalen Erinnerungskultur zunehmend wichtiger: Vor allem der 1. September 1939, als mit dem Überfall auf Polen der Zweite Weltkrieg begann.

PiS: Beginn kommunistischer Schreckensherrschaft

Eine erneute Veränderung erfuhr die staatliche Erinnerungskultur mit der Regierungsübernahme der PiS zunächst 2005-2007 und erneut nach 2015. Für die PiS und ihr nahestehende Historiker ist der 8. Mai vor allem der Startschuss einer kommunistischen Schreckensherrschaft, in der die polnische Nation erneut von einer externen Macht misshandelt wurde. Die Erinnerungskultur heroisiert die Widerstandskämpfer der Reste der Heimat-Armee, die nach dem Mai 1945 den bewaffneten Kampf – diesmal gegen die Rote Armee und den kommunistischen Sicherheitsapparat – nicht einstellten.

Einen großen Stellenwert hat bereits seit den 1990er Jahren auch die Erinnerung an die Ermordung von 20.000 polnischen Offizieren durch den sowjetischen NKWD im Frühjahr 1940.  Das wichtigste Datum in dieser neue Erinnerungskultur ist (neben dem Kriegsbeginn) der 1. August 1944, das Datum des Beginns des Warschauer Aufstands. Eine gewisse, allerdings deutlich geringere Rolle spielt auch der 19. April 1943, der Beginn des Aufstands im Warschauer Ghetto. Eine größere symbolische Bedeutung erhielt allmählich, vor allen in den letzten Jahren, auch der 27. Januar, der Tag der Befreiung des KZ Auschwitz, als Symbolort für den Holocaust und die Leiden der polnischen Zivilbevölkerung.

Stolz auf Polens Kämpfer im Krieg

Dies heißt allerdings nicht, dass das Kriegsende nicht als wichtiges Datum wahrgenommen wird, verbunden mit einem öffentlich und privat gehegten Stolz auf die verschiedenen polnischen Verbände, die an Seiten der Alliierten an verschiedenen Fronten in diesem Krieg gekämpft haben.

An irgendwelche Waffenbrüderschaft mit der Sowjetunion will man dagegen nicht erinnert werden: Putins Russland wird von der Regierung in Warschau schlicht als Feind gesehen. Faktisch behandelt die Regierung dieses Jahr den 8. Mai als Nicht-Event, und zwar unabhängig von Corona-Krise und anderen Problemen. Die großen staatlichen Erinnerungsfeiern zu den diversen Gedenktagen des Zweiten Weltkriegs konzentrierten sich vielmehr auf den 1. September 2019, den 80. Jahrestag des Überfalls auf Polen und auf den 27. Januar dieses Jahres, als in Anwesenheit der Staatschefs Polens, Deutschlands, Israels und der Ukraine des 75. Jahrestags der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz gedacht wurde. Den Ausfall der großen Siegesfeier in Moskau aufgrund der Corona-Epidemie dürfte in Polen kaum jemand bedauern.

Autor*in
Ernst Hillebrand

war Leiter des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Polen.

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