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Peru nach der Präsidentschaftswahl: Ein Land vor der Zerreißprobe

Auch zwei Wochen nach der Wahl steht noch nicht fest, wer neue*r Präsident*in von Peru wird. Das wird zunehmend zu einer Belastungsprobe für die Demokratie.
von Sara Brombart · 24. Juni 2021
Der links orientierte Kandidat Pedro Castillo lässt sich von seinen Anhänger*innen in Lima feiern. Offiziell anerkannt wurde sein Sieg bei der Präsidentschaftswahl noch nicht.
Der links orientierte Kandidat Pedro Castillo lässt sich von seinen Anhänger*innen in Lima feiern. Offiziell anerkannt wurde sein Sieg bei der Präsidentschaftswahl noch nicht.

Stolze 18 Kandidat*innen standen zur Auswahl bei den peruanischen Präsidentschaftswahlen. Einen deutlichen Vorsprung hatte nach der ersten Runde keine*r von ihnen. Pedro Castillo, Dorfschullehrer und Gewerkschaftsführer der linken, sozialkonservativen Partei Perú Libre (Freies Peru), ging mit einem überraschenden Ergebnis von 18,9 Prozent aus der Wahl hervor. Seine Gegnerin Keiko Fujimori, Tochter des inhaftierten Diktators Alberto Fujimori und dreimalige Präsidentschaftskandidatin der rechtspopulistischen Partei Fuerza Popular (Volkskraft), lag mit 13,4 Prozent hinter ihm. Die 130 Sitze im neuen Kongress teilen sich 10 politische Parteien – eine Mehrheit hat keine von ihnen.

Niedrige Wahlbeteiligung wegen Corona

Etwa 30 Prozent der Wähler*innen überhaupt nicht gewählt – und das in einem Land, in dem es eine Wahlpflicht gibt. Die geringe Beteiligung ist Ausdruck der allgemeinen Abneigung gegen die ausufernde politische Korruption, die Skandale und die Instabilität der letzten Jahrzehnte. Die Bevölkerung hat genug von einer politischen Klasse, die in die eigene Tasche wirtschaftet und deren wirtschaftliche Privatinteressen kaum noch von ihren politischen Zielen zu unterscheiden sind. Zudem blieben viele Wähler*innen den Wahllokalen fern, weil sie angesichts der hohen Infektionszahlen in Peru Angst hatten, sich mit Covid-19 anzustecken. Andere wiederum mussten sich um dringendere Angelegenheiten kümmern und zum Beispiel für ihre Angehörigen Sauerstoffflaschen füllen, für die sie tagelang anstehen mussten.

Die Ergebnisse des ersten Wahlgangs ließen die peruanische Bevölkerung in dem unguten Gefühl zurück, sich zwischen zwei Extremen entscheiden zu müssen; den beiden Kandidat*innen blieb nichts anderes übrig, als ihre Rhetorik zu zügeln. Doch die Gräben sind tief. Auf der einen Seite befinden sich die weißen, wohlhabenden städtischen Wähler*innen, die ihre vermeintliche wirtschaftliche Stabilität erhalten wollen und sich für Fujimori entschieden haben, weil sie für den Erhalt des Status quo steht; auf der anderen Seite die multiethnischen und indigenen Wähler*innen in den ländlichen Gebieten, die ihrer Verarmung entkommen und endlich von „einem der ihren“, Pedro Castillo, gesehen und gehört werden wollen.

Diese gegensätzlichen Realitäten spiegeln sich in den knappen Ergebnissen des zweiten Wahlgangs am 6. Juni wider, bei dem Castillo mit nur 0,25 Prozent oder 44 058 Stimmen führte. Obwohl Castillo sich am 15. Juni zum Sieger erklärte, hat der Oberste Wahlgerichtshof (JNE) sich bis zum 17. Juni noch nicht offiziell erklärt. Er wird dies auch erst tun, nachdem er in den kommenden Wochen über die von beiden Parteien eingereichten Anträge auf Annullierung einzelner Abstimmungslisten entschieden hat.

Belastungsprobe für die Demokratie

In den mittlerweile 14 Tagen seit der Stichwahl ist die Nervosität extrem gestiegen. Die Fronten haben sich verhärtet und setzen das demokratische System Perus einer Belastungsprobe aus, die mit Blick auf die zukünftige Stabilität des Landes besorgniserregend ist. Fujimoris Anwaltsteam setzt alles daran, Misstrauen zu schüren, den demokratischen Prozess zu untergraben und sich den Wahlsieg zu sichern, indem es das Wahlergebnis zu kippen versucht. Es hat beantragt, etwa 200 000 Stimmen in ländlichen Gebieten mit großer Castillo-Anhängerschaft für ungültig zu erklären. Der Antrag stützte sich auf unbegründete Wahlbetrugsvorwürfe. Internationale Wahlbeobachter*innen haben die Wahl als frei und fair eingestuft.

Bis zum 12. Juni hatte Peru im Wartestand verharren müssen – erst dann hatte die Nationale Wahljury (JNT) die Anträge schließlich zurückgewiesen. Noch wichtiger war, dass die Kommission nicht dem Druck nachgab, die auf den 9. Juni festgesetzte Einreichungsfrist für Anfechtungsklagen zu verlängern.

Fujimoris Anhängerschaft kritisiert die JNT scharf für diese Entscheidung und fordert Neuwahlen. Manche hochrangige pensionierte Militärs regten gar einen Putsch an. Zum Glück reagierten die Streitkräfte rasch und erklärten, dass sie die verfassungsmäßige demokratische Ordnung respektieren werden. Die Reaktionen sowohl der JNT als auch der Streitkräfte sind Indizien dafür, dass das demokratische System noch funktioniert und geachtet wird.

Höchste Corona-Todesrate weltweit

Doch welche*r Kandidat*in auch immer am Ende gewinnen wird – er oder sie wird mit einer ganzen Reihe schwieriger Herausforderungen zu kämpfen haben. Peru erlebt einen Vertrauensverlust in sein demokratisches System, seine Institutionen und die politischen Entscheidungsträger. Das Misstrauen gegenüber Politiker*innen jeder Couleur ist groß und, offen gesagt, durchaus berechtigt. Mit Ausnahme der letzten beiden Interimspräsidenten gab es unter den letzten sechs Präsidenten keinen, der nicht in Korruptionsskandale verwickelt oder wegen Korruption verurteilt worden wäre.

Hinzu kommt, dass die Corona-Pandemie die schon vorher bestehenden Ungleichheiten in Peru offenlegt und verschärft. Im Land mit der höchsten Todesrate der Welt hat die Krankheit die Bevölkerung traumatisiert. Die jahrzehntelange Unterfinanzierung des Gesundheitssystems, das nach Venezuela das schwächste in ganz Lateinamerika ist, hat die Situation noch verschlimmert.

Gleichzeitig ist die Einkommensarmut während der Pandemie von etwa 20 auf 30 Prozent gestiegen; dies entspricht rund 10 Millionen Menschen. Rechnet man die 11 Millionen Menschen hinzu, die vermutlich nur knapp über der Armutsgrenze leben, ergibt sich, dass zwei Drittel der Bevölkerung in Not sind und unter schwerer Ernährungsunsicherheit leiden. Etwa 90 Prozent der Landbevölkerung leben in prekären Verhältnissen. Dass gerade sie Castillos Wählerbasis bilden, überrascht nicht.

Fujimori hat keine Veision

Der größte Risikofaktor bei einer Präsidentschaft Fujimoris ist, dass sie keine Vision hat. Sie hat noch nicht begriffen, dass die große Mehrheit der Bevölkerung den kritischen Punkt schon überschritten hat. Dass Fujimori im Grunde unfähig ist, ein tieferes Verständnis für die strukturellen und systemischen Ungleichheiten zu entwickeln, die die peruanische Gesellschaft prägen, ist ein echtes Problem. Jahrelange soziale Missstände in der Gesundheitsversorgung, im Bildungswesen und im Wohnungsbau lassen sich nicht einfach mit Geld zukleistern. Doch genau das lässt Fujimoris oberflächliches sozialpolitisches Programm erwarten. Sie kündigte an, sie werde die Arbeitnehmerrechte respektieren, jede peruanische Familie, die durch Covid-19 Angehörige verloren hat, finanziell entschädigen, zwei Millionen Landtitel vergeben, Kredite für Kleinunternehmen anbieten und nicht an das Versorgungsnetz angeschlossenen Gemeinden kostenlos Wasser liefern.

Fujimori will das neoliberale Wirtschaftsmodell, das ihr Vater während seiner zehnjährigen Präsidentschaft (1990 bis 2000) etabliert hat und das von den nachfolgenden Präsidenten fortgeführt wurde, lediglich nachjustieren. Außerdem möchte sie die unter der Präsidentschaft ihres Vaters ausgearbeitete Verfassung beibehalten, die weniger Spielraum für staatliche Eingriffe lässt und umso mehr Entfaltungsmöglichkeiten für die Kräfte des freien Marktes bietet.

Castillo stünde als Präsident vor weitaus größeren Herausforderungen als Fujimori.Die wirtschaftlichen Interessengruppen haben mit ihrer Macht und ihrem Druckpotenzial sowohl die gewählten Parlamentarier*innen als auch die kommerziellen Mainstream-Medien fest im Griff. Während des Wahlkampfes hatten die Medienkonglomerate nur ein Ziel vor Augen: Castillo zu demontieren und für Fujimori zu werben. Sie betrieben Panikmache, stellten Castillo als gefährliche kommunistische und terroristische Bedrohung dar und erreichten damit, dass sein fast 20-prozentiger Vorsprung unmittelbar nach dem ersten Wahlgang nach und nach schrumpfte. Diese parteiischen Medienkampagnen werden, wenn Castillo Präsident wird, mit Sicherheit weitergehen.

Machtkämpfe würden mit Castillo weitergehen

Castillo hat seinen wirtschaftspolitischen Kurs geändert – statt Schlüsselindustrien, vor allem im Bergbausektor, zu verstaatlichen, will er Verträge mit großen Unternehmen „neu aushandeln“, 20 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Bildung und Gesundheit ausgeben, das Rentensystem reformieren, das staatliche Hochschulwesen dezentralisieren und einen neuen Verfassungsentwurf erarbeiten, der die Rolle des Staates stärkt. Die Finanzmärkte sind jedoch nach wie vor nervös. Wohlhabende Peruaner sind schon dabei, ihr Geld aus dem Land zu schaffen.

Die alten Machtkämpfe zwischen Exekutive und Legislative würden auch während Castillos Präsidentschaft weitergehen. Es ist unwahrscheinlich, dass ein gespaltener und größtenteils konservativer Kongress seine Wirtschaftspläne absegnen wird, zumal wenn sie kostspielige Sozialprogramme vorsehen. Die allgegenwärtige Gefahr eines parlamentarischen Putsches ist durchaus real, denn das Verfahren zur Amtsenthebung des Präsidenten wegen „moralischer Unfähigkeit“ macht einen solchen Putsch relativ leicht.

Angesichts dieser nationalen Herausforderungen, der emotional aufgeheizten und gespaltenen Gesellschaft und einer eigennützigen politischen Klasse sind erneute politische Instabilität oder gar Unruhen und massive soziale Konflikte nicht auszuschließen. Die mit Spannung erwartete offizielle Bekanntgabe des nächsten Präsidenten wird die aktuellen politischen Krisen nicht lösen; sie eröffnet lediglich ein neues Kapitel in der unruhigen politischen Geschichte Perus.

Zuerst erschienen am 22. Juni im IPG-Journal

Autor*in
Sara Brombart

leitet das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Lima, Peru.

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