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Kolumbien: Wie Präsident Gustavo Petro den Neustart schaffen will

Gustavo Petro baut sein Kabinett radikal um, sieben Minister müssen nur wenige Monate nach Amtsantritt schon wieder gehen. Gelingt der Neustart für Kolumbiens linken Präsidenten?
von Oliver Dalichau · 2. Mai 2023
Neustart nach nicht einmal sieben Monaten: Kolumbiens Präsident Gustavo Petro hat sieben seiner Minister*innen entlassen.
Neustart nach nicht einmal sieben Monaten: Kolumbiens Präsident Gustavo Petro hat sieben seiner Minister*innen entlassen.

Es war ein einzigartiger Paukenschlag in Kolumbien. Am Abend des 25. April 2023 hat Präsident Gustavo Petro seine 18 Minister*innen formal aufgefordert, zurückzutreten. Am darauffolgenden Tag wurde bekannt gegeben, dass diese Rücktritte jedoch nur für die Minister*innen der Finanzen, Landwirtschaft, Inneres, Gesundheit, Wissenschaft, Informations- und Kommunikationstechnologie, Verkehr und die Verwaltung des Präsidialamtes wirksam werden.

Insbesondere die Entlassung der beliebten Landwirtschaftsministerin Cecilia López und des auf dem internationalen Parkett bestens vernetzten Finanzministers Jose Antonio Ocampo wird sowohl national als auch international bedauert. Ihre Abgänge befeuern Spekulationen, dass es zukünftig mehr programmatische Nähe geben könnte, weniger Widerspruch, dafür aber mehr Zustimmung zu Petros oft als Alleingänge wahrgenommenen Entscheidungen.

Einzigartige Entscheidung in der Geschichte Kolumbiens

Damit fanden die seit mehreren Wochen andauernden öffentlich ausgetragenen Streitigkeiten innerhalb der bunten Regierungskoalition zwischen Petros Pacto Histórico, den traditionellen Parteien der Konservativen und Liberalen, der Partido de la U und der Kommunistischen Partei Kolumbiens sowie mehreren weiteren Kleinstparteien ihr vorläufiges Ende. Im präsidentiellen System des Landes ist dieser Schritt kein ungewöhnlicher, er ist durch die Verfassung von 1991 gedeckt und wurde in der Vergangenheit oft genutzt, um politische Blockaden aufzulösen. Petros drei Vorgänger nutzen die Möglichkeit ebenso, der ultrarechte Alvaro Uribe im Jahr 2010, Friedensnobelpreisträger und Staatschef Juan Manuel Santos in den Jahren 2013 und 2017 und auch der allseits unbeliebte Präsident Iván Duque versuchte 2019, sein Kabinett zum Rücktritt aufzufordern.

Die damaligen jeweiligen Situationen können jedoch nicht mit der aktuellen verglichen werden: Petros Entscheidung, den Rücktritt seines Kabinetts nach weniger als neun Monaten im Amt zu fordern, ist einzigartig in der jüngeren Geschichte des Landes. Noch nie zuvor hat ein Staatspräsident so früh in seiner Amtszeit den Rücktritt aller seiner Minister*innen gefordert. Sie traf die meisten politischen Beobachter*innen und die zersplitterte Opposition absolut unvorbereitet. Auch die allgemeine kolumbianische Öffentlichkeit zeigt sich auch Tage nach dem bisherigen Höhepunkt der andauernden politischen Krise weiterhin überrascht und rätselt über Petros Motive.

Zusammenarbeit mit Liberalen und Konservativen als zunehmende Belastung

Soll der Grund einzig im Streit um die geplante Abstimmung zu einer bürgerfreundlicheren und sozialeren Gesundheitsversicherung zu suchen sein? Das Hin und Her zu diesem zentralen Reformversprechen des Präsidenten hielt das Land die vergangenen Wochen in Atem und war bereits Ende Februar Mitauslöser für den Rücktritt des liberalen Bildungsministers und zweier weiterer Kabinettskolleginnen. Dennoch bekräftigten einzelne Koalitionsabgeordnete der Konservativen, der Liberalen und auch der weiterhin einflussreichen Partei de la U öffentlich, das komplexe Gesetz mitzutragen – und zogen damit den Zorn ihrer Parteivorsitzenden auf sich, die unverhohlen mit Sanktionen und Disziplinarverfahren drohten.

Die zwar formale Unterstützung der traditionellen Parteien für die Agenda der Regierung stand im Gegensatz zu einer faktischen, gleichzeitigen Opposition gegen zentrale Inhalte der von Petro angestrebten Reformen. Diese anhaltenden Spannungen führten letztendlich dazu, dass die Zusammenarbeit in der Regierungskoalition untragbar wurde. Diese Situation wurde zunehmend zu einer Belastung für den Staats- und Regierungschef, insbesondere in der schwierigen Phase, in der er versuchte, die Beziehungen zum Nachbarland Venezuela zu verbessern, die dritte Verhandlungsrunde mit der verbleibenden Guerillagruppe Nationale Befreiungsarmee (ELN) vorzubereiten und mit einer Vielzahl anderer krimineller Gruppen und Gruppierungen konkrete Ansätze für einen umfassenden Frieden zu finden (Paz Total). 

Kaum Verbesserungen seit Amtsantritt

Von vielen wird deshalb Petros Entscheidung als konsequent, mutig und entschlossen angesehen. Dies insbesondere von den sehr diversen Kräften und gesellschaftlichen Gruppen, die seiner Programmatik und seinem politischen Projekt am nächsten stehen und die ihm und seiner Vizepräsidentin Francia Marquez den historischen Sieg des letzten Jahres erst ermöglicht haben. Sie hoffen nun erneut, dass die versprochenen fortschrittlichen Ideen in den Bereichen soziale Gerechtigkeit, Klima und Umweltschutz, Land- und Volkswirtschaft, feministische Politik und eine neue Drogenpolitik weiter oben auf der Tagesordnung stehen werden. Dafür könnten nun die neuen Minister*innen aus dem Pacto Histórico und den ihm angeschlossenen Parteien sorgen. Denn: Bei allem Verständnis für die Notwendigkeit kleiner Schritte bei Veränderungsprozessen waren viele von ihnen mit den Kompromissen und der im Wahlkampf noch abgelehnten Kooperation mit den traditionellen kolumbianischen Parteien nicht einverstanden. 

Bei den Unterstützer*innen Petros herrschte zunehmend die Meinung vor, dass die Zustimmung der traditionellen Parteien zu den Reformvorschlägen nur durch zu hohe politische Preise erkauft wurde. Der zuerst als positiv wahrgenommene Kompromiss zwischen den verschiedenen politischen Gruppen trug immer mehr zu der Verhinderung zentraler Regierungspunkte des Präsidenten bei. Hinzu kommt zudem, dass sich in den zentralen Politikfeldern, Sicherheit, Präsenz des Staates sowie soziale Gerechtigkeit auch seit der Amtsübernahme Petros kaum spürbare Verbesserungen zeigen und sein Wahlspruch Cambio por la vida, Veränderung für das Leben, bisher kaum näher definiert wurde. Weiterhin erinnern tagtägliche Meldungen über Entführungen, Vertreibungen und Ermordungen von sozialen Führungspersönlichkeiten aus vielen Regionen des Landes die kolumbianische Öffentlichkeit, dass der Weg zu einem nachhaltigen Frieden kein einfacher ist. 

Verlorene Jahre unter Petros Vorgänger als Hypothek

Vergessen wird dabei schnell, dass die vier verlorenen Jahre unter Petros Amtsvorgänger ihm eine Hypothek auf den 2016 mit der FARC geschlossenen Friedensvertrag hinterlassen haben, die nicht in wenigen Monaten zu beseitigen ist. Dies gilt auch für die Bereiche Wirtschaft, Umwelt, Arbeitsmarkt, Bildung und Renten und die hier erhofften und erwarteten Verbesserungen, die strukturelle und längerfristige Veränderungen erfordern, aber oft nur im Schneckentempo vorankommen und viele Rückschläge erfahren. Für die große Zahl von Kolumbianer*innen, die weiterhin von Armut, Mangelernährung und schlechten Bildungs- und Aufstiegschancen betroffen sind, bleibt zum aktuellen Zeitpunkt kaum mehr als eine Hoffnung übrig.

Trotz aller Beteuerungen, die sozial-ökologische Wende voranzubringen, aus der Kohleproduktion auszusteigen, verstärkt auf erneuerbare Energien zu setzen und dem Umwelt- und Naturschutz mehr Bedeutung beizumessen, klaffen Anspruch und Wirklichkeit weit auseinander. Petros Rede vor den Vereinten Nationen, die den Kampf gegen die Drogen als gescheitert kennzeichnete, folgten bislang zu wenige Änderungsvorschläge oder Maßnahmen – aufgrund fehlender Alternativen bauen Kleinbäuer*innen weiterhin Kokapflanzen an. Der manuelle Einsatz von Glyphosat hat andauernde negative Auswirkungen auf alles Leben. Im Verlauf der Wertschöpfungskette zum Rauschmittel Kokain werden alle Beteiligten weiterhin strafrechtlich verfolgt und kriminalisiert. 

Kaum Alternativen zu Petro

Der historische Aufbruch, den das Land vor einem Jahr erfasst hatte, ist unter diesen Bedingungen zum Erliegen gekommen, viele Erwartungen wurden bislang nicht erfüllt und haben Enttäuschungen Platz gemacht. Dies hat weniger damit zu tun, dass die politisch verantwortlichen Akteur*innen nicht genug arbeiten oder es ihnen am politischen Willen fehlt, das Regierungsprogramm zu verwirklichen. Viel eher haben die ehrgeizigen Pläne und der Versuch, alle bislang liegengebliebenen Reformen gleichzeitig anzugehen, in der kolumbianischen Bevölkerung Erwartungen geweckt, die kurzfristig nicht zu erfüllen sind.

Von Seiten der pulverisierten ultrarechten Opposition sind jedoch auch keine Alternativen zu erwarten – weder personell noch inhaltlich. Petros Gegenkandidat in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahl, der populistische Unternehmer Rodolfo Hernandez, ist aus der öffentlichen Debatte verschwunden und wieder in der Bedeutungslosigkeit abgetaucht. Petros Vorvorvorgänger Alvaro Uribe dagegen – der seit seinem gescheiterten Versuch, die Verfassung für eine dritte Amtszeit zu ändern – mehrere Strafprozesse schadlos überstanden hat, mischt hinter und vor den Kulissen weiter in der kolumbianischen Politik mit und setzt eigene Akzente. Ein Comeback auf die nationale Ebene bleibt jedoch unter den aktuellen Bedingungen für ihn ausgeschlossen – zu sehr ist sein Name mit der katastrophalen Regierung von Ivan Duque und den falsos positivos verbunden, den 6.402 unschuldig von den staatlichen Institutionen Ermordeten, die als FARC-Kämpfer ausgegeben wurden. 

Wenig Zeit für zweite Chance

Gustavo Petro und Francia Marquez haben mit dieser Kabinettsneujustierung, die nun programmatisch viel stärker an der Agenda des Präsidenten ausgerichtet ist, eine zweite Chance – sie müssen sie nutzen, und dafür bleibt ihnen nicht viel Zeit. Ende Oktober 2023 sind die wichtigen Regionalwahlen, bei denen neben den Bürgermeister*innen auch Provinzgouverneur*innen und Abgeordnete für die lokalen Parlamente gewählt werden. Sollte die dort stark verwurzelten traditionellen Parteien triumphieren, wird das Regieren für den Präsidenten deutlich schwieriger. Erhalten jedoch die mit Petro verbundenen Parteien ein starkes Mandat, könnte der von vielen erhoffte gesellschaftspolitische Wandel mit neuem Schwung einsetzen und auch die Weichen für einen Erfolg des progressiv-linken Lagers bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2026 stellen. 

Petro muss daher versuchen, die Gesundheitsreform in der aktuellen Form durchs Parlament zu bringen. Das gleiche gilt für die laufenden Prozesse um ein neues Arbeitsgesetz, das informelle Beschäftigung abbauen und mehr Rechte für Arbeiter*innen garantieren soll, sowie für die im Anfangsstadium befindliche Rentenreform. Da ihm mit seiner eigenen Partei die Mehrheit fehlt, wird es auf sein Verhandlungsgeschick und das seiner bisherigen Getreuen ankommen.

Unterstützung der europäischen Partner wichtig

Die rechten Oppositionsparteien werden nach der Schockstarre weiterhin versuchen, Bemühungen um ein sozialeres, wirtschaftlich breit aufgestelltes und weniger von Erdölexporten abhängiges Kolumbien, dass Menschenrechte achtet und Demokratie stärkt, zu torpedieren. Die rassistischen und frauenfeindliche Angriffe auf Vizepräsidentin Marquez werden weitergehen. 

Gustavo Petro gelang es in der Vergangenheit immer wieder, Freund*innen und Kritiker*innen positiv zu überraschen – die Zusage der US-amerikanischen Regierung, Kolumbien beim Kampf gegen die menschengemachte Klimakrise mit rund 500 Millionen US-Dollar zu unterstützen, zählt genauso dazu wie die Zusage der Europäischen Union, das Andenland mit rund 26 Millionen Euro für Projekte zum Paz Total und bei den Migrationsherausforderungen zu unterstützen. Ohne diese internationale – auch europäische und deutsche – Unterstützung wäre es für das Duo Petro/Marquez noch einmal schwieriger, ihre Ideen für ein sichereres, friedlicheres und nachhaltigeres Kolumbien umzusetzen. Die Partner Kolumbiens tun gut daran, ihr Engagement aufrechtzuerhalten. Insbesondere in turbulenten Zeiten ist es wichtig, sich auf wertegebundene Freundschaften verlassen zu können.

Am 28. April erschienen im IPG-Journal.

Autor*in
Oliver Dalichau

ist Direktor der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kolumbien FESCOL und des lateinamerikanischen Netzwerks für inklusive und nachhaltige Sicherheit.

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