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Israel: Warum Premier Netanjahu keine politische Zukunft mehr hat

Der terroristische Angriff der Hamas am 7. Oktober hat die gesellschaftliche und politische Situation in Israel dramatisch verändert. Die Folgen bewertet Ralf Melzer, Büroleiter der Friedrich-Ebert-Stiftung, im Interview.
von Nikolaos Gavalakis · 23. Oktober 2023
Bundeskanzler Olaf Scholz zeigt seine Solidarität beim Treffen mit Israels Ministerpräsident Netanjahu.
Bundeskanzler Olaf Scholz zeigt seine Solidarität beim Treffen mit Israels Ministerpräsident Netanjahu.

Der beispiellose Terrorangriff der Hamas war ein Schock für Israel und die Welt. Weiterhin feuert die Hamas zahlreiche Raketen Richtung Israel. Wie ist die Stimmung im Land?

Die Stimmung ist sehr angespannt und von Trauer und Sorge geprägt. Trauer um die über 1400 Toten. Sorge vor allem um die Geiseln, die in den Gazastreifen verschleppt wurden und dort von Hamas und Islamischem Dschihad zur Schau gestellt und als menschliche Schutzschilde missbraucht werden. Darunter sind Kinder, Frauen und Holocaust-Überlebende. Der 7. Oktober hat die Menschen in Israel traumatisiert. Vielleicht mehr noch als der Yom-Kippur-Krieg vor genau 50 Jahren. Über Stunden hatten die Terroristen ganze Ortschaften auf israelischem Kernland nahe des Gazastreifens unter ihrer Kontrolle und haben vergewaltigt, gefoltert, gemordet. Das hat Israel in seinen Grundfesten erschüttert, einschließlich des traditionell sehr großen Vertrauens in die Streitkräfte.

Das aktuelle Jahr war von Massendemonstrationen gegen die Regierung geprägt. Letzte Woche hat sich Ministerpräsident Netanjahu mit der Opposition auf die Bildung einer Notstandsregierung geeinigt. Wie geschlossen ist Israel derzeit?

Einerseits sehr geschlossen: Das Land rückt zusammen. 300 000 Reservisten wurden mobilisiert. Es gibt viel Hilfe für die Menschen, die evakuiert werden mussten, und große Solidarität untereinander, übrigens auch zwischen der jüdischen und arabischen Bevölkerung in Orten, wo diese zusammenleben. Der Oppositionspolitiker Benny Gantz ist mit vier weiteren Ministern ohne Geschäftsbereich aus seiner Partei in der Notstandsregierung vertreten. Die wöchentlichen Massenproteste gegen die Justizreform sind ausgesetzt.

Andererseits hat die Aufarbeitung, wie es zu dieser Katastrophe kommen konnte, bereits begonnen. Im Zentrum der Kritik stehen nicht nur die Geheimdienste, sondern auch die politische Führung. Ich gehe davon aus, dass Netanjahu diese Aufarbeitung politisch nicht überleben wird. Erste Rücktrittsforderungen gibt es bereits. Die Strategie der Regierung, einen Ausgleich mit arabischen Staaten von einer Friedensregelung mit den Palästinensern zu entkoppeln und stattdessen den Status quo zu managen, ist auf dramatische Weise gescheitert. Klar aber ist: Die Hamas wird nicht Teil einer zukünftigen politischen Lösung sein.

Diese Woche sind Bundeskanzler Olaf Scholz und US-Präsident Joe Biden nach Israel gereist, um Ihre Solidarität zu bekunden. Wie wichtig ist die Solidarität des Westens für das Land?

Das kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden, und zwar politisch wie auch psychologisch. Olaf Scholz wurde bei seinem Besuch größte Wertschätzung entgegengebracht. Der Kanzler und der US-Präsident haben auch beide auf die katastrophale humanitäre Lage im Gazastreifen hingewiesen und sich für Hilfslieferungen stark gemacht. Das war sehr wichtig. Zugleich verbinden sich mit dem Besuch des Kanzlers und dem deutschen diplomatischen Engagement auch große Erwartungen. Das wurde während seines Treffens mit Angehörigen deutscher Geiseln in Tel Aviv sehr deutlich.

Israel hat der Hamas den Krieg erklärt und antwortet mit massiven Luftschlägen auf den Gazastreifen. Viele Beobachter*innen erwarten, dass Israel mit Bodentruppen einmarschiert. Wie wird die Reaktion der Regierung im Land diskutiert?

Die öffentliche Meinung ist nahezu einhellig, dass alles Notwendige getan werden muss, um die militärischen Kapazitäten von Hamas und Islamischem Dschihad zu zerschlagen. 86 Prozent der Menschen, die sich selbst als politisch linksstehend charakterisieren, unterstützen eine Bodenoffensive im Gazastreifen. Auch Jossi Beilin, ehemaliger Außenminister und einer der Architekten der Oslo-Verträge, hat sich in diesem Sinne geäußert. Im Kriegskabinett ist durch die Aufnahme der beiden ehemaligen Generalstabschefs Benny Gantz und Gadi Eizenkot viel militärische Kompetenz und Erfahrung versammelt. Die rechtsextremen Minister der Netanjahu-Regierung sitzen dagegen nicht mit am Tisch.

Bei aller Hoffnung auf ein besonnenes Vorgehen: Israel wird sein Ziel, den militärischen Arm der Hamas auszuschalten, ohne eine wie auch immer geartete Bodenoffensive kaum erreichen können. Das wird höchstwahrscheinlich viele Menschenleben, darunter auch zivile Opfer, fordern. Israel steht vor einem moralischen Dilemma. Denn die perfide Strategie der Hamas zielt auf möglichst viele Opfer auch in der eigenen Zivilbevölkerung ab, um diese dann propagandistisch auszuschlachten. Aber man darf der Hamas nicht den Gefallen tun, ihren barbarischen Terror auf relativierende Weise als Widerstand gegen die israelische Besatzung im Westjordanland zu verklären. Wichtig zu betonen ist auch, dass in Israel sehr wohl unterschieden wird: Hamas beziehungsweise Islamischer Dschihad werden nicht mit der palästinensischen Bevölkerung gleichgesetzt.

Der Einschlag einer Rakete in ein Krankenhaus in Gaza hat die Situation in der Region weiter verschärft. Sind die Folgen überhaupt schon absehbar?

Nein, in keiner Weise. Die vielen Opfer sind zuallererst eine große menschliche Tragödie. Die schon vorher extrem aufgeheizte Stimmung droht seitdem global außer Kontrolle zu geraten. Empörung und Wut haben sich dabei weitgehend von der Faktenlage losgelöst. Israel hat inzwischen glaubhafte und nachprüfbare Beweise vorgelegt, dass die Ursache der Explosion vor dem Krankenhaus nicht israelischer Beschuss, sondern eine fehlgeleitete Rakete des Islamischen Dschihad war. Natürlich wäre eine unabhängige Untersuchung für die Akzeptanz der Ergebnisse wichtig, sie ist jedoch unter den gegenwärtigen Bedingungen nur schwer durchführbar. So oder so wird das aber nahezu keine Auswirkungen auf die gegen Israel gerichtete hasserfüllte Stimmungslage haben. Menschen glauben, was sie glauben wollen. Hinzu kommt vielfach einseitige oder unvollständige Berichterstattung, die Ursachen und Folgen ausblendet. Noch schlimmer ist die Wirkung der aus dem Kontext gerissenen Bilder in den Sozialen Medien sowie die in einem unvorstellbaren Ausmaß grassierenden Fake News einschließlich gezielter russischer Desinformation. Israel wird den Krieg gegen die Hamas gewinnen. Den Krieg um die internationale öffentliche Meinung hat es schon verloren.

Wie groß ist die Angst vor einer weiteren Eskalation, insbesondere einem Zweifrontenkrieg mit der Hamas im Süden und der Hisbollah im Norden?

Die Sorge vor einer Eskalation an den Grenzen zum Libanon und zu Syrien ist beträchtlich, grenznahe Ortschaften wurden bereits evakuiert. Die Hisbollah verfügt über ein großes Arsenal teilweise reichweitenstarker Raketen. Die internationalen diplomatischen Bemühungen, einen Flächenbrand zu verhindern, haben durch die Absage des Vierergipfels zwischen Joe Biden, dem jordanischen König sowie dem ägyptischen und dem palästinensischen Präsidenten einen Rückschlag erlitten. Sie müssen aber unbedingt schnellstens wieder aufgenommen werden. Notwendig sind weiterhin auch unmissverständliche Warnungen in Richtung Iran, dessen Regime Israel auf aggressivste Weise droht und sowohl Hisbollah als auch Hamas militärisch und finanziell unterstützt. Wie direkt der Iran in die Vorbereitungen des Terrorangriffs der Hamas involviert war, lässt sich nach wie vor nicht mit Sicherheit sagen.

Am 19. Oktober im IPG-Journal erschienen.

Autor*in
Nikolaos Gavalakis

leitet die Redaktion des IPG-Journals. Zuvor war er Leiter des Regionalbüros „Dialog Osteuropa“ der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kiew. Er hat in Mainz und Kalifornien Politikwissenschaft, Jura und Amerikanistik studiert.

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