Eine tödliche Kombination für den scheiternden Staat Libanon
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Am 4. August 2020 um 18.07 Uhr blieb im Libanon die Zeit stehen. An diesem schrecklichen Tag wurde nicht nur eine Stadt verstümmelt, sondern eine ganze Bevölkerung. Viele Zahlen wurden bekannt: 2 750 Tonnen Ammoniumnitrat, 215 Todesopfer, mehr als 6 500 Verletzte, mindestens zwei Opfer, die nach einem Jahr noch immer im Koma liegen, über 70 000 beschädigte Wohneinheiten, mehr als 300 000 Menschen, die ihr Zuhause verloren haben. Geschätzte acht Milliarden US-Dollar an materiellen Schäden. Unbezahlbare Verluste an Menschenleben. Die entscheidende Zahl sind die über sieben Millionen traumatisierten Menschen im Libanon und im Ausland, die um Gerechtigkeit kämpfen.
Ein Jahr ist seit diesem Tag nun vergangen. Über der Explosion vom 4. August – von vielen „Beirutshima“ genannt, da sie ein fast nukleares Ausmaß an Zerstörung brachte – schwebt immer noch das Gespenst der Straffreiheit. Die libanesische Gesellschaft befindet sich in einer massiven Krise, die von Verzweiflung und Enttäuschung geprägt ist. Es ist eine tödliche Kombination: die abstürzende Währung des Landes, Banken, die das Geld ihrer Kunden einbehalten, die Pandemie und eine Katastrophe von beinahe atomarer Wucht.
Von der Krise zum Zusammenbruch
Bereits im Sommer 2019, als die Banken Auszahlungen von geschäftlichen und privaten Konten einschränkten, gab es Anzeichen für einen finanziellen Zusammenbruch. Am 17. Oktober 2019 gingen Millionen von Libanesinnen und Libanesen auf die Straße, um gegen neue Steuern zu protestieren. Das veränderte die politische Dynamik. Die politische Klasse sah in den Demonstrationen eine Gelegenheit, Milliarden von Dollar aus dem Land herauszuschmuggeln und ein neues Narrativ zu verbreiten: Der finanzielle Zusammenbruch sei durch die Proteste verursacht worden.
Die politische Elite im Libanon ist aus dem 1990 beendeten Bürgerkrieg hervorgegangen. Durch die Proteste wurde sie aufgeschreckt: Plötzlich vereinte sich das libanesische Volk unter dem Slogan „Kellon yaane kellon!“ (arabisch für „Alle von ihnen heißt alle von ihnen!“) gegen die politischen Entscheidungsträger. Damit beschuldigten sie explizit alle, die seit 1990 in politischen Ämtern waren, und forderten, dass sie für Misswirtschaft und Korruption zur Rechenschaft gezogen würden. Die Regierungsparteien waren über diesen Slogan sehr aufgebracht. In einigen Landesteilen wurden die Demonstrantinnen und Demonstranten von Schlägern, die mit den Parteien verbunden waren, angegriffen.
Pandemie half dem Regime
Dann kam der März 2020: Die Pandemie half dem Regime, die wütenden Menschen von der Straße zu vertreiben. Die Regierungsparteien sahen den Lockdown als Gelegenheit, um ihre Position zu festigen. Die Zelte, die die Demonstranten im ganzen Land aufgestellt hatten, um sich zu treffen und politische Themen zu diskutieren, wurden von Sicherheitskräften niedergebrannt. Die Parteien verteilten Hygieneboxen und Lebensmittelpakete mit ihren Namen und Logos an Unterstützer und notleidende Familien.
Der Zusammenbruch kam allerdings schneller als erwartet. Im Juli 2020 fiel das Libanesische Pfund auf ein Rekordtief von 8 000 pro US-Dollar. Die Regierung instrumentalisierte die Pandemie zur Lösung ihres Problems: Immer wenn die Preise – insbesondere für Brot – deutlich stiegen, verhängte sie einen Lockdown.
Der 4. August 2020 begann als erster „normaler“ Tag nach einem dieser irrationalen fünftägigen Lockdowns. Um 17 Uhr schlossen die Geschäfte und in Beirut gab es die üblichen täglichen Verkehrsstaus. Um 17.40 Uhr brach im Lagerhaus 12 des Beiruter Hafens ein Feuer aus. Die Feuerwehr wurde alarmiert. Um 18.07 Uhr gab es eine erste laute Explosion. Diejenigen in Beirut, die sie hören konnten, gingen nach draußen, um zu sehen, was passiert war. Weniger als 40 Sekunden später … nun, die ganze Welt hat gesehen, was dann geschah. Die Detonation konnte man sogar noch auf Zypern hören und spüren.
4. August 2020: eine Katastrophe ohne Beispiel
Wenn man in einem Land wie dem Libanon, das durch ständige Unruhen und Gewalt geprägt ist, ein lautes Geräusch hört, rennt man instinktiv los. Dieses Mal war alles anders: Es gab keinen Ort, an den man sich flüchten konnte. Im Umkreis von zehn Kilometern wurde alles von Glas- und Metallsplittern durchbohrt.
Ich wohne nur einen Kilometer vom Zentrum der Explosion entfernt. Ich habe Bilder gesehen, die kein Hollywoodfilm jemals wiedergeben könnte. Ich ging durch eine Straße, die voll Blut war. Erwachsene und Kinder liefen herum wie Zombies und schrien unkontrolliert. Am schwersten war es, sich nicht um die Leichen auf dem Boden zu kümmern. Oder an den zerstörten Krankenhäusern vorbeizugehen, deren Angestellte versuchten, blutende Patientinnen und Patienten auf die Straße zu evakuieren. Oder ein zerstörtes Bestattungsunternehmen zu sehen, dessen Särge durch die Wucht der Explosion draußen verstreut worden waren. Nein, der härteste Teil dieses Tages war, über fünf Stunden herumzurennen und zu versuchen, Verwundete zu retten – und nicht zu wissen, was eigentlich passiert war. Ein neuer Krieg? Eine Invasion? Wann würde die nächste Explosion kommen?
Am Morgen des 5. August war die Luft schwer. Die Atmosphäre in Beirut war voller Staub und Tod. Als sich die Wolke des explodierten Ammoniumnitrats über die zerstörten Häuser und Autos legte, bedeckte sie die Stadt mit einem rosafarbenen Schleier. Trotzdem strömten zehntausende Libanesinnen und Libanesen mit Schaufeln, Besen und Müllsäcken aus allen Regionen zusammen, um ihre Hauptstadt zu säubern und Solidarität mit den Opfern zu zeigen.
Der Staat tut nichts für die Opfer
Der Staat, der schweigende Übeltäter, rührte keinen Finger, um die Freiwilligen bei ihren Hilfs- und Säuberungsarbeiten zu unterstützen. Stattdessen entschied er sich dafür, wütenden Überlebenden und Demonstranten, die am 8. August in der Nähe des Parlaments protestierten, mit Tränengas und Kugeln zu begegnen. Für die schweren Verletzungen der Protestierenden wurde nicht ein einziger Polizist zur Verantwortung gezogen. An diesem Tag verloren mindestens 35 Menschen ein Auge.
Heute, ein Jahr später, ist der Staat vollkommen gescheitert und die Wirtschaft komplett zusammengebrochen. Nachdem die regierende Klasse ihr Geld außer Landes geschmuggelt hat, sind die Reserven der Zentralbank vollständig aufgebraucht. Das Parlament hat zugelassen, dass 200 Millionen US-Dollar aus den Reserven – also Geld der Anleger – dafür verwendet werden, Benzin und andere Waren zu importieren. Der Wechselkurs gegenüber dem US-Dollar bricht jeden Tag neue Rekorde und steht momentan bei 23 000 Pfund. Im Land mangelt es an essenziellen medizinischen Gütern. Der Gesundheitssektor geht in die Knie. Strom gibt es jeden Tag nur für drei Stunden.
Für Viele bleibt nur das Ausland
In dieser Woche, in der sich Zehntausende im Libanon gemeinsam mit den Familien der Opfer an den 4. August 2020 erinnern, richten sich die Augen auf den Untersuchungsrichter Tarek Bitar. Die Libanesinnen und Libanesen erwarten von ihm, beispiellos mutige Entscheidungen zu treffen und die Schuldigen zu benennen. Wiederholt haben politische Entscheidungsträger zugegeben, dass sie über das Ammoniumnitrat in Lagerhaus 12 Bescheid wussten. Zu diesen gehört auch Präsident Michel Aoun selbst, der im August 2020 in einem Fernsehinterview sagte, er sei am 20. Juli darüber informiert worden – seiner Ansicht nach „zu spät“. Als ehemaliger General kennt Aoun die Gefahren solcher Explosivstoffe vermutlich sehr gut. Passiert ist trotzdem nichts. Aoun hat die letzten zehn Monate damit verbracht, mit dem ehemaligen und zeitweilig wieder amtierenden Ministerpräsidenten Saad Hariri zu verhandeln. Beide verhindern die Bildung einer neuen Regierung, die dem libanesischen Volk Hoffnung geben könnte.
Am 5. August beantragte Richter Bitar, die Immunität mehrerer prominenter früherer Entscheidungsträger aufzuheben, die mit den Ereignissen in Verbindung stehen könnten. Das Parlament lehnte dies ab. Alternative Medienplattformen führen währenddessen Investigativrecherchen durch, um Fakten zur Beschaffung und zur Lagerung des Ammoniumnitrats ans Licht zu bringen. Das libanesische Volk, insbesondere die Jugend, hat den Glauben an Rechenschaft und Gerechtigkeit verloren. Es hat auch den Glauben an die internationale Gemeinschaft verloren. Es träumt von einem Visum und einem One-Way-Ticket nach irgendwo anders.
Aus dem Englischen von Harald Eckhoff
Dieser Text erschien zuerst auf www.ipg-journal.de
ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Friedrich-Ebert-Stiftung im Libanon. Er ist Überlebender der Explosion vom 4. August 2020 in Beirut.