Ein Jahr nach der gefälschten Wahl: Wie ist die Lage in Belarus?
Florian Gaertner/photothek.netMarienstr. 3110117 Berlinwww.photothek.net+49-(0)30-28097440
Am 9. August 2020 wurde Präsident Alexander Lukaschenko im Belarus mit mehr als 80 Prozent der Stimmen für eine sechste Amtszeit gewählt – so die offiziellen Angaben im Land an diesem Tag. Hunderttausende Menschen war jedoch klar, dass dies das Ergebnis von Wahlfälschung war. Denn unabhängigen Beobachter*innen zufolge gewann Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja mit absoluter Mehrheit. Dabei war sie ohne großes politisches Programm angetreten, ihre Forderungen im Wahlkampf beschränkten sich auf zwei wesentliche Punkte: freie Wahlen und die Freilassung aller politischen Gefangenen in Belarus.
Nachdem Tichanowskaja um den Wahlsieg gebracht worden war, begannen Massenproteste im Land. „Wahlfälschungen sind nicht neu“, sagt Polina Gordienko im Live-Gespräch mit dem „vorwärts“ auf Instagram. Die Studentin engagiert sich in München kommunalpolitisch für die SPD. Belarus kennt sie gut. Denn sie ist in dem Land aufgewachsen, ehe sie mit 14 Jahren alleine nach Deutschland ging. Entsprechend sprach sie im vergangenen Jahr häufig bei Solidaritätskundgebungen und verfolgt weiterhin, was in Belarus passiert.
„Die Menschen sind wegen den Wahlfälschungen auf die Straße gegangen. Das waren Menschen aus allen Bevölkerungsgruppen. Sie wurden mit viel Polizeigewalt seitens des Militärapparats von Lukaschenko konfrontiert. Innerhalb weniger Tage saßen tausende unschuldige Bürger in Haft“, berichtet sie. Einige wurden ermordet, andere gefoltert, viele auf offener Straße niedergeschlagen.
Auch deswegen veränderte sich der Protest nach wenigen Tagen und wurde fortan in der Mehrzahl von Frauen getragen. Denn die Annahme war, dass diese besser geschützt seien vor Repressionen: „Viele haben weiße Kleider getragen, hatten Blumen in den Haaren und sind barfuß auf die Straße gegangen, um möglichst friedlich auszusehen. Diese Bilder sind um die ganze Welt gegangen.“ Das zeigte zunächst auch Wirkung auf den Diktator. Während der Anfangszeit der Proteste ging Lukaschenkos Regime gemäßigter gegen die Frauenbewegung vor.
Repressionen wurden willkürlicher
Doch auch das änderte sich. Die staatlichen Repressalien wurden willkürlicher. Immer mehr Bürger*innen waren quasi grundlos Verhaftungen und Folter ausgesetzt. Nachdem Mitte November bis zu 2.000 Menschen an einem Tag festgenommen wurden, dezentralisierte sich der Protest. Statt einer zentralen Demonstration gab es in der Hauptstadt Minsk beispielsweise Protestaktionen an 40 oder 50 verschiedenen Orten.
Neben der Situation vor Ort betrübt Gordienko auch, dass Belarus in der medialen Berichterstattung während der Wintermonate wieder komplett vergessen worden sei. „Das war für mich unerträglich“, sagt sie. Denn das Land leide auch wirtschaftlich extrem unter der Politik des Präsidenten: „Jede Handlung von Lukaschenko dient nur dem Ziel, noch möglichst lange an der Macht zu bleiben. Es gab zuletzt einen großen IT-Sektor in Belarus, den gibt es aufgrund der Repressalien nicht mehr.“
ist Redakteur des „vorwärts“. Er hat Politikwissenschaft studiert und twittert gelegentlich unter @JonasJjo