30 Jahre Mauerfall: Was Europa und die USA heute daraus lernen können
„Es war eine nervöse Atmosphäre, aber das lag nicht an uns“, erinnert sich Aleksander Kwaśniewski an den 9. November 1989. Damals empfing die wenige Monate vorher neu gewählte Regierung des polnischen Ministerpräsidenten Tadeusz Mazowiecki die Delegation um Bundeskanzler Helmut Kohl und Außenminister Hans-Dietrich Genscher in Warschau.
Der Papstbesuch als Weckruf
30 Jahre später spricht Kwaśniewski, der von 1995 bis 2005 polnischer Staatspräsident war, auf Einladung der Friedrich-Ebert-Stiftung auf einer Veranstaltung an der Georgetown Universität in Washington. „Ein Mann kam zu Genscher und gab ihm ein kleines Stück Papier. Genscher hat dann Kohl sofort informiert“, berichtet Kwaśniewski weiter. In Berlin war die Mauer gefallen.
1989 ist für Kwaśniewski eines der wichtigsten Jahre in der Geschichte der Menschheit, insbesondere mit Blick auf Ostmitteleuropa. Der frühere polnische Präsident weist auf die Vorgeschichte des friedlichen Umbruchs in seinem Land hin. Bereits der Besuch von Papst Johannes Paul II. 1979 sei ein Weckruf für die polnische Zivilgesellschaft gewesen. Im Jahr darauf gründete sich die Gewerkschaft Solidarnosc. Und auch 1989 führten die Runde-Tisch-Gespräche in Polen bereits im Sommer des Jahres zu den ersten halbwegs freien Wahlen, durch die Mazowiecki ins Amt kam. „Das hat gezeigt, dass Veränderungen auch ohne Krieg und Blutvergießen möglich sind. Das war einzigartig in der polnischen Geschichte“, sagt Kwaśniewski.
Erfolgsgeschichte für Ost- und Mitteleuropa
Die polnische Nachwendezeit ist für Kwaśniewski eine Erfolgsgeschichte. Die Länder Ostmitteleuropas bauten demokratische Institutionen auf, garantierten die Menschenrechte und erlebten wirtschaftliches Wachstum. Beispielhaft führt Kwaśniewski an, dass das polnische Bruttoinlandsprodukt 1990 auf dem Niveau der Ukraine gewesen sei. Heute sei es viermal so hoch wie das des Nachbarlandes. „Wir sollten stolz auf das sein, was wir geschafft haben. Es war nicht einfach, es hat viel gekostet, aber viele Länder Ost- und Mitteleuropas sind heute in einer besseren Situation“, meint Kwaśniewski daher.
Während seiner Präsidentschaft trat Polen 1999 der NATO bei. „Das war eine wirkliche Garantie für Sicherheit. Wir sind unseren amerikanischen Freunden dafür sehr dankbar“, sagt Kwaśniewski und hebt insbesondere die Rolle der damaligen US-amerikanischen Außenministerin Madeleine Albright hervor. Sie habe besonderes „Fingerspitzengefühl“ bewiesen.
Hagel: „Keine Zeit zu reagieren“
Chuck Hagel, der unter Präsident Barack Obama zwischen 2015 und 2017 US-Verteidigungsminister war, betont das gute Verhältnis zwischen Kwaśniewski und ihm: „Wir sind alte Freunde und kennen uns seit vielen Jahren.“ Unter Kwaśniewskis Präsidentschaft habe Polen viel erreicht, lobt Hagel.
30 Jahre nach der friedlichen Revolution erkennt Hagel schwindendes Vertrauen in demokratische Institutionen. Er mahnt daher: „Wenn wir das Vertrauen in die Institutionen verlieren, die unsere Gesellschaft am Laufen halten, bekommen wir größere Probleme, als wir verstehen können.“ Zugleich vollziehe sich der Wandel in der Welt durch Globalisierung und Digitalisierung so schnell wie nie zuvor. „Es gibt keine Zeit, um darauf zu reagieren. Deswegen können wir heute davon lernen, was 1989 in Berlin passiert ist“, sagt Hagel.
Kwaśniewski: „Wir brauchen Migration“
Kwaśniewski bemängelt angesichts dieser technologischen Revolution: „Die Politiker haben keine guten Antworten, weil alles zu schnell geht, aber diese Revolution ist nicht aufzuhalten und unumkehrbar.“ Die Globalisierung kreiere eine spezifische Situation, die eng mit der Frage der Migration verknüpft sei. Anders als große Teile der aktuellen polnischen Regierung ist Kwaśniewski der Meinung: „Wir sollten die Grenzen für Migranten offen lassen. Denn wir brauchen Migranten.“
Der frühere polnische Präsident führt an, dass zwei Millionen Polen ihr Land verlassen hätten, dafür arbeiteten 1,5 Millionen Ukrainer in Polen. „Ohne sie wäre die polnische Wirtschaft am Ende“, sagt Kwaśniewski. Wichtig sei jedoch, dass Integration gelinge.
Mit der NATO gegen Terrorismus
Kwaśniewski und Hagel betonen außerdem die Bedeutung internationaler – insbesondere der transatlantischen – Zusammenarbeit. Die Welt sei in allen Regionen so gefährlich wie nie zuvor geworden, meint Hagel. „Ohne Verbündete auf internationaler Ebene würden uns die Instrumente fehlen, um den internationalen Terrorismus zu bekämpfen“, ist der ehemalige US-Verteidigungsminister überzeugt. Er kritisiert die aktuelle Verteidigungspolitik unter der Regierung Trump. Diese führe dazu, dass die anderen NATO-Mitgliedsstaaten zunehmend Vertrauen in die USA verlören, wie etwa beim kürzlich erfolgten Abzug des US-Militärs aus Syrien.
Hagel kritisiert zudem Trumps Slogan „America First“: „Das ist verrückt. Das ist keine Außenpolitik. Ich weiß nicht, was es ist, aber es ist nicht das, was wir sind und wofür wir stehen.“ Die USA seien ein Land, das für Freiheit und Menschenrechte einstehe. Kwaśniewski merkt angesichts von „America First“ amüsiert an, er könne sich nicht erinnern, wann die USA in den vergangenen 70 Jahren nicht die Ersten gewesen seien. Die USA seien ein wichtiger Faktor für Frieden und Stabilität in der transatlantischen Region. Sie würden laut Kwaśniewski gut daran tun, der NATO mehr Vertrauen zu schenken: „Es ist ein Fehler, negativ über die NATO zu sprechen.“
Junge Leute machen Hoffnung
Trotz aller Herausforderungen blickt Kwaśniewski optimistisch in die Zukunft. Das liege vor allem an der jüngeren Generation. „Wenn man auf die jungen Menschen schaut, die in Warschau, Budapest und Istanbul auf die Straße gehen, sieht man, dass auch in diesen Ländern die Zivilgesellschaft stark genug ist, die freiheitlichen Rechte zu verteidigen.“
ist Redakteur des „vorwärts“. Er hat Politikwissenschaft studiert und twittert gelegentlich unter @JonasJjo