Missbrauchs-Aufklärer Matthias Katsch: „Einer musste anfangen.“
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Am Donnerstag werden Sie vom Bundespräsidenten mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt. Was bedeutet Ihnen diese Auszeichnung?
Ich freue mich sehr über diese Auszeichnung, weil sie eine Anerkennung ist für den Kampf, den wir in den vergangenen elf Jahren geführt und die Ausdauer, die wir dabei bewiesen haben. Am Donnerstag werden zwar Klaus Mertes und ich von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ausgezeichnet. Eigentlich werden aber viele Betroffene mit ausgezeichnet, die seit 2010 und auch davor eine Menge geleistet haben.
2010 haben Sie sich mit zwei ehemaligen Mitschülern an den damaligen Leiter des Canisius-Kollegs, den Jesuitenpater Klaus Mertes gewandt und über ihre eigenen Missbrauchserfahrungen berichtet.
Ja, dieses Gespräch im Januar 2010, war der Auslöser für den sogenannten Missbrauchsskandal und alles was sich daraus entwickelt hat. Heute gibt es einen Unabhängigen Beauftragten, einen Betroffenenrat, eine Aufarbeitungskommission auf Bundesebene, lauter Gremien, an und in denen ich mitgewirkt habe. Aber die Menschen, die 2010 gesprochen haben, verdanken sehr viel der Vorarbeit von Frauen, die schon seit den 70er Jahren unermüdlich auf das Ausmaß von sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen hinweisen. Ohne diese Vorarbeiten wären die Aufdeckung des Missbrauchsskandals vor elf Jahren und alles, was danach kam, nicht möglich gewesen. Es reicht nicht, dass Opfer anfangen zu sprechen. Es muss auch eine Gesellschaft geben, die bereit ist, ihnen zuzuhören. Dafür wurde seit den 70ern der Boden bereitet.
Und doch hätte es ohne Ihren Anstoß vor elf Jahren all das nicht gegeben.
Einer musste anfangen und das war in dem Fall eben ich. Es war aber genauso Klaus Mertes, der zugehört und reagiert hat – und zwar anders als es Kirche normalerweise in solchen Fällen getan hat. Trotzdem stehe ich nicht alleine, sondern mit vielen, vielen Betroffenen, die nicht genannt werden, auch weil sie es für sich nicht wollen.
Haben Sie damals erwartet, dass Ihr Weg in die Öffentlichkeit derartige Auswirkungen haben würde?
Nein. Über die Wucht, die der Brief von Mertes und die Berichterstattung in den darauffolgenden Wochen entfaltet hat, war ich ehrlich überrascht. Das Ausmaß von sexueller Gewalt in Bildungseinrichtungen auch abseits der Kirche, das in der Folge ans Tageslicht gekommen ist, hat mich schockiert. Positiv überrascht hat mich die Bereitschaft der Gesellschaft, den Betroffenen zuzuhören. Normalerweise wird ein Skandal in der Berichterstattung und dadurch auch in der öffentlichen Wahrnehmung nach zwei, drei Wochen vom nächsten Skandal abgelöst. Das war hier nicht so. Uns ist es gelungen, das Thema sexueller Missbrauch kontinuierlich in der öffentlichen Wahrnehmung zu halten, eigentlich bis heute.
Wie ist Ihnen das gelungen?
Wir haben von Anfang an darauf gesetzt, einerseits in Gremien zu gehen bzw. solche zu bilden, sich zu vernetzen und Verbündete zu suchen und andererseits kontinuierlich Medienarbeit zu machen. So haben wir versucht, der Macht der Institutionen zu begegnen. Das ist uns insgesamt ganz gut gelungen. Klassischerweise schämen sich die Opfer ja mehr als die Täter und treten daher nur selten in die Öffentlichkeit. Dieses Muster konnten wir glücklicherweise durchbrechen. All unsere Bemühungen hätten aber keinen Erfolg gehabt, wenn die Gesellschaft nicht bereit gewesen wäre, das tabuisierte Thema sexueller Missbrauch genauer zu betrachten. Beispiele aus anderen Ländern zeigen, wie es auch hätte laufen können. Der Erfolg der MeToo-Bewegung einige Jahre später zeigt ebenfalls, dass das Thema sexualisierte Gewalt bei uns nicht mehr automatisch weggedrückt und aus dem Bewusstsein verdrängt wird. Trotzdem gibt es noch einiges zu tun.
Nämlich?
Man merkt immer wieder, dass Menschen ein Unbehagen fühlen im Umgang mit Betroffenen sexualisierter Gewalt. Das tradierte Bild, das etwa im Ausdruck „Kinderschänder“ mitschwingt, ist in vielen Köpfen noch tief verankert und hat lange Zeit den Umgang mit den Opfern geprägt. Das zu verändern, braucht Zeit und es braucht die Präsenz von Menschen, die diese Erfahrungen gemacht haben, um die Opferbilder zu verändern. Auch wenn gute Ansätze da sind, bleibt das Ganze ein zäher Prozess.
In der MeToo-Bewegung haben sich vor allem Frauen zu Wort gemeldet haben, die von sexueller Belästigung und Gewalt betroffen waren. Mit Ihnen sind in erster Linie Männer an die Öffentlichkeit getreten, die als Kinder missbraucht wurden. Ist sexueller Missbrauch für Männer ein anderes Thema als für Frauen?
In jedem Fall kollidiert es mit dem tradierten Verständnis von Männlichkeit, das nach wie vor in der Gesellschaft herumwabert und noch nicht überwunden ist. Dunkelfeldstudien zeigen zwar seit Jahrzehnten, dass auch Jungen Opfer sexualisierter Gewalt werden. Männer als Opfer sind nach wie vor nicht der Normalfall. Das hindert Jungen auch daran, sich Hilfe zu suchen, wenn sie in einer solchen Situation sind. Ob es für Männer schwieriger ist, über sexualisierte Gewalterfahrungen zu sprechen, hängt sicher auch vom persönlichen Männlichkeitsempfinden ab. Sie verdrängen häufiger und sprechen weniger über ihre Erfahrungen. Dadurch brauchen sie häufig auch länger, um an die Wurzel ihres Leidens zu kommen.
Das Bundesverdienstkreuz erhalten Sie nicht zuletzt für ihr Engagement in der Initiative „Eckiger Tisch“. Der gemeinnützige Verein vertritt die Interessen von Opfern sexueller Gewalt durch Kleriker der katholischen Kirche.. Was ist Ihr Antrieb, sich einzusetzen?
Mich motiviert bis heute die Ungerechtigkeit, dass eine mächtige Institution unserer Gesellschaft – eben die katholische Kirche – es so lange geschafft hat, Verbrechen ihrer eigenen Mitarbeiter unter der Decke zu halten und zu verhindern, dass sie bestraft werden. Diese Auseinandersetzung ist auch nach elf Jahren nicht beendet – zumal sie nicht nur in Deutschland geführt wird, sondern weltweit. Und es betrifft natürlich auch andere Institutionen wie die evangelische Kirche oder der organisierte Sport, die bisher so ein bisschen im Windschatten der katholischen Kirche segeln. Das zähe Ringen zwischen Betroffenen, die Aufklärung fordern, und der Institution, die sich schwertut, eine Aufarbeitung zuzulassen, ist überall zu beobachten. Als Gesellschaft dürfen wir aber nicht akzeptieren, dass tausende von Verbrechen an Kindern und Jugendlichen ungesühnt bleiben, weil sie strafrechtlich verjährt sind. Wir sind den Opfern eine Aufdeckung und Aufarbeitung schuldig.
Wie bewerten Sie vor diesem Hintergrund die Vorgänge im Erzbistum Köln in den vergangenen Monaten?
Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie sehr 2010 Vertreter des Erzbistums Köln überzeugt waren, dass es sexuellen Kindesmissbrauch bei ihnen so gut wie nicht gibt. Die Rede war von wenigen Fällen. Zehn Jahre später, nachdem endlich eine Untersuchung der eigenen Personalakten stattgefunden hat, sind mehr als 200 Täter bekannt und mindestens 314 Opfer. Das zeigt mir, dass da bewusst die Augen verschlossen wurden. So etwas selbst aufklären zu wollen, ist auch eine Überforderung der Institution Kirche, denn es bedeutet natürlich, dass Verantwortliche benannt werden müssen. Sich mit der eigenen Schuld auseinandersetzen zu müssen, fällt niemandem leicht. Trotzdem ist es dringend notwendig. Deshalb ist es umso wichtiger, dass wir uns als Gesellschaft um die Aufarbeitung kümmern. Wenigstens die Wahrheit auf den Tisch zu legen, schulden wir den Opfern, aber auch den Kindern und Jugendlichen heute. Für sie besteht schließlich auch ein Risiko, selbst Opfer von sexualisierter Gewalt zu werden. Aufarbeitung dient auch der Prävention.
Wie große schätzen Sie die Gefahr für Kinder und Jugendliche heute ein?
Es gibt keinen Grund, anzunehmen, dass die Gefahr geringer geworden ist, nur weil wir angefangen haben, über sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen zu sprechen. Dafür setzen wir uns noch viel zu wenig mit Täter-Strategien auseinander und sind bei Beratung und Unterstützung von Betroffenen noch viel zu schwach aufgestellt. Positiv ist, dass heute mehr Fälle bekannt werden als in der Vergangenheit. Trotzdem bleibt viel zu tun. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit kann uns auch zeigen, wo wir heute genauer hinschauen müssen.
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Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.