Inland

Kampf gegen Obdachlosigkeit: Diese Konzepte funktionieren bereits

Menschen, die auf der Straße leben: Nicht nur in Deutschland prägen sie das Bild vieler Städte. In Berlin haben Expert*innen über Ansätze und Reformen diskutiert, die Betroffenen Alternativen ermöglichen sollen.

von Karin Billanitsch · 14. Januar 2025
Obdachloser in Berlin

Obdachlosigkeit in Berlin: Auch vor den Schaufenstern von Geschäften richten sich Menschen ein. 

Mehr als zwei Millionen Menschen erlebten 2024 Obdachlosigkeit in OECD- und EU-Ländern, schätzt die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). „Der Kampf gegen Obdachlosigkeit liegt uns sehr am Herzen, es ist ein Politikbereich, der reif für Reformen ist“, sagte Politikanalyst Ali Bargu bei einer Diskussion in Berlin. Die OECD hat erforscht, welche Werkzeuge zur Bekämpfung der Wohnungslosigkeit wirken könnten.

Regionale oder nationale Strategien

Immerhin verfügen mehr als die Hälfte der OECD- und EU-Länder bereits über nationale Obdachlosigkeitsstrategien, heißt es in dem Bericht „OECD-Toolkit zur Bekämpfung der Obdachlosigkeit.“ Es soll laut Bargu politische Entscheidungsträgern Orientierung bieten, „um zu verhindern, dass Menschen obdachlos werden, sowie Menschen, die Obdachlosigkeit erleben, unterstützen und nachhaltige Wege aus der Obdachlosigkeit bieten.“ Dafür hat die OECD verschiedene Bausteine definiert.

Zu den Ländern, die bereits nationale Strategien haben, gehört auch Deutschland. Sabine Bösing von der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) betonte, die Initiative zum Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung sei ein „wichtiger Schritt“ gewesen. „Das ist zum ersten Mal in dieser Weise thematisiert worden und der Wille deutlich gemacht worden, die Wohnungs- und Obdachlosigkeit zu überwinden“, so Bösing. Gemeinsam wollen dafür verschiedene Akteure bis 2030 Maßnahmen entwickeln. Von der neuen Bundesregierung erwartet der Verband, dass der Plan fortgesetzt wird und der Prozess weiter geht. 

Der im vergangenen Jahr von Bundesbauministerin Klara Geywitz (SPD) vorgestellte Aktionsplan hat drei Schwerpunkte: Zum einen sollen mehr bezahlbare Wohnungen und Sozialwohnungen gebaut werden. Für den sozialen Wohnungsbau hat der Bund im Jahr 2024 die Mittel deutlich erhöht und 18,15 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt. 

Das Wohngeld wurde ausgeweitet

Hinzu kommt die Reform des Wohngeldes, das 2024 ausgeweitet wurde. Drittens wurde der Blick auch auf notwendige, schnelle Hilfe gerichtet und Qualitätsmindeststandards für die Unterbringung in Notunterkünften erarbeitet. Zum Beispiel soll es ermöglicht werden, Frauen und Männer getrennt unterzubringen.

Laut dem von Geywitz kürzlich vorgestellten Wohnungslosenbericht waren Anfang vergangenen Jahres in Deutschland rund 439.500 Menschen im System der Wohnungsnotfallhilfe untergebracht, weitere rund 60.400 Personen waren vorübergehend bei Angehörigen, Freunden oder Bekannten untergekommen. Rund 47.300 Personen lebten auf der Straße oder in Behelfsunterkünften.

An einer nationalen Strategie fehlt es zum Beispiel in Österreich, vor allem wegen der fehlenden Kompetenz der nationalen Ebene, erläuterte Veronika Scharer vom Fonds Soziales Wien (FSW), verantwortlich für das Thema in der Landeshauptstadt. Wien ist als Stadt und zugleich Bundesland zuständig für das Thema und hat in den vergangenen Jahren eine neue Strategie erarbeitet. „Dabei orientieren wir uns sehr stark am Housing-First-Ansatz“, so Scharer. Wiens Vorteil dabei sei ein breites Angebot an kommunalem und gefördertem Wohnraum mit leistbaren Mieten, mit denen die Stadt der Immobilienpreisentwicklung entgegensteuert.

Housing-First-Ansätze in Wien und Hamburg

Schon seit 2012 gibt es sogenannte Housing-First-Projekte in der Stadt. „Sie sind ein immer wichtigeres Angebotssegment geworden“, berichtete Scharer. „Wir haben auch auf Erfahrungen in anderen Ländern und Städten geschaut und gesehen, wie gut das funktioniert.” Ziel dabei sei es, möglichst direkt und rasch in langfristig gesichertes Wohnen zu vermitteln. Das könne eine eigene Wohnung mit mobiler Betreuung oder ein Wohnplatz in einem stationär betreuten Wohnen sein.

Auch in Deutschland gibt es zunehmend Städte mit Housing-First-Ansätzen. Ein Beispiel ist die Hansestadt Hamburg. Nina Behlau von Housing First Hamburg schilderte die Grundzüge des Modellprojekts. Der Start sei im Juli 2022 erfolgt. Die Stadt habe den Auftrag erteilt, dass zunächst 30 Wohnungen in drei Jahren vermittelt werden. „Im Sommer 2024 war das Ziel weit vor dem geplanten Ende bereits erreicht, und wir konnten aufstocken“, so Behlau. Damit das Projekt bis zum Ende der Laufzeit bis Juni 2025 weiterarbeiten kann, hat die Sozialbehörde in Hamburg weitere Mittel zugeschossen.

Das Housing-First-Prinzip: Es wird eine eigene Wohnung mit einem eigenen Mietvertrag vermittelt, und darüber hinaus werden – sofern gewünscht – weitere soziale Unterstützungsmaßnahmen angeboten. Dafür steht bei Housing First Hamburg ein Team von Sozialarbeitern bereit. „Alles nach dem Prinzip der Freiwilligkeit“, betonte Behlau. „Wir sehen uns als kleinen Teil in einem guten Wohnungslosenhilfesystem.“ Träger sind das Hilfswerk des Diakonischen Werks Hamburg, der Ev.-Luth. Kirchenkreis Hamburg-Ost und die Benno und Inge Behrens-Stiftung.

„Ansätze sind erprobt”

Auch die OECD misst dem Paradigmenwechsel – weg von Notunterkünften hin zu längerfristigeren Unterkünften – große Bedeutung bei: „Die Ansätze sind erprobt und kosteneffizient. Anstatt sie nur in Pilotprojekten zu testen, sollten sie zum Kernstück der Wohnungslosenpolitik werden“, sagte Ali Bargu von der OECD. In Wien gibt es beispielsweise die so genannten „Chancenhäuser“ für die akut notwendige Unterbringung. Statt großer Schlafsäle in einer Notunterkunft bieten sie Einzel- oder Doppelzimmer, mit Möglichkeiten, sich tagsüber dort aufzuhalten. Die Bewohner*innen werden von Sozialarbeitern betreut und unterstützt. Dadurch soll eine Verfestigung der Obdachlosigkeit vermieden werden.

Besonders hob Bargu die Bedeutung zuverlässiger Messungen und Daten hervor. „Wir bauchen eine bessere Datenerhebung und -analyse, um Hauptursachen zu verstehen und vor allem die langfristige Wohnstabilität zu fördern.“ Im Bericht macht die OECD auf die Europäische Typologie für Obdachlosigkeit, Wohnungslosigkeit und prekäre Wohnversorgung (ETHOS) aufmerksam, die einen statistischen Rahmen bietet, um verschiedene Formen des Mangels an einer Wohnung zu erfassen und zu bewerten.

Präventive Maßnahmen

Alle Akteure zeigten sich auch einig, wie wichtig es sei, schon im Vorfeld gegenzusteuern, damit es gar nicht erst zur Wohnungslosigkeit kommt. Deshalb ist auch Prävention einer der wichtigen Bausteine im aktuellen OECD-Bericht. „Mehr bezahlbarer Wohnraum, Sozialhilfeleistungen gehören dazu, damit das Problem gar nicht erst entstehen kann“, betonte Bargu. 

Frühe und gezielten Maßnahmen könnten sich auch an bestimmte Zielgruppen wie junge Menschen, die aus der Kinder- und Jugendhilfe entlassen werden, oder aus der Haft Entlassene richten. Bargu: „Wichtig ist, sich systemisch zu überlegen, wo sind Lücken im System und gefährdete Gruppen schon vorher anzusprechen, bevor Wohnungslosigkeit entsteht“. 

Dieser Artikel erschien zuerst auf demo-online.de

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Karin Billanitsch

ist Leitende Redakteurin beim Vorwärts-Verlag und verantwortlich für die DEMO – Das sozialdemokratische Magazin für Kommunalpolitik.

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