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„Emscher-Spirit“: Warum Olaf Scholz mehr Pragmatismus wagen will

Vor 125 Jahren wurde in Bochum die „Emschergenossenschaft“ gegründet. Zu Anfang verlacht, hat sie dazu beigetragen, dass das Ruhrgebiet heute wieder grün ist. Für Bundeskanzler Olaf Scholz ein Beispiel, wie auch heutige Herausforderungen gemeistert werden sollten.

von Kai Doering · 28. November 2024
Olaf Scholz beim Jubiläum der Emschergenossenschaft in Bochum

„Weniger Konzentration auf das Ideale und das Wünschenswerte. Dafür mehr Fokus auf das Machbare und Wirksame.“ Olaf Scholz beim Jubiläum der Emschergenossenschaft in Bochum

Es ist ein Satz, der heute wie eine Selbstverständlichkeit wirkt, als er gesagt wurde, aber höchstens als Utopie verstanden werden konnte. „Der Himmel über dem Ruhrgebiet muss wieder blau werden!“, forderte Willy Brandt am 28. April 1961. Die SPD traf sich an diesem Tag in der Beethovenhalle in Bonn, um ihr Programm für die Bundestagswahl im Herbst zu beschließen. „‚Reine Luft‘, ‚reines Wasser‘ und ‚weniger Lärm‘ dürfen keine papierenen Forderungen bleiben“, forderte Brandt damals.

Die Realität im Ruhrgebiet sah zu dieser Zeit ganz anders aus. Rund 80 Hochöfen und 100 Kraftwerke stießen Anfang der 60er Jahre so viel Kohlestaub und CO2 aus, dass vielerorts die Wäsche nicht unter freiem Himmel getrocknet werden konnte – sonst wäre sie hinterher dreckiger gewesen als vor dem Waschen. Im Winter fiel der Schnee häufig grau, manchmal sogar schwarz vom Himmel.

Vom Abwasserkanal zum Erholungsgebiet

Dass der Himmel über der Ruhr, diesem Fluss, der einen ganzen Region seinen Namen gibt, eines Tages wieder blau sein würde, „wurde damals als naives Wunschdenken abgetan“, erinnerte Olaf Scholz am Donnerstag in Bochum. Der Bundeskanzler hielt eine Rede bei der Festveranstaltung anlässlich der Gründung der „Emschergenossenschaft“ vor 125 Jahren in Bochum. Über Jahrzehnte war die gut 80 Kilometer lange Emscher als zentraler Abwassersammelkanal des Ruhrgebiets missbraucht worden. 1992 begann man mit der Renaturierung. „Und heute fließt das Wasser der Emscher tatsächlich wieder glasklar und sauber“, wie Scholz bei der Festveranstaltung betonte (laut Redemanuskript).

„Ihre Arbeit ist ein fantastisches Beispiel gelingender Modernisierung und ein leuchtendes Vorbild für unser Land“, lobte der Kanzler die Verdienste der Emschergenossenschaft dabei. An der Emscher hätten sich „nicht die Skeptiker, die Mutlosen und die Meckerer durchgesetzt, sondern diejenigen, die an eine bessere Zukunft, an einen blauen Himmel über der Ruhr und an eine saubere Emscher geglaubt haben“. Diesen Geist wünscht sich Scholz auch für Deutschland, wie in seiner Rede deutlich wurde.

Mutige Ziele setzen und pragmatisch erreichen

„Es kommt darauf an, dass wir uns mutige Ziele setzen. Und dann ganz pragmatisch, Schritt für Schritt daran arbeiten, sie auch zu erreichen.“ Das sei die „Inspiration“, die sich aus dem 125-jährigen Jubiläum der Emschergenossenschaft ziehen lasse, der „Emscher-Spirit“, wie Scholz ihn nannte. Den will der Kanzler auch beim Umbau der Wirtschaft hin zur Klimaneutralität an den Tag legen. „Pragmatisch heißt: Wir folgen in Sachen Klimaschutz keinen wirklichkeitsfremden Wunschvorstellungen.“ Niemandem sei geholfen, wenn so viel reguliert werde, dass die energieintensive Industrie an Orte mit geringeren Umweltstandards abwandere.

Ein klares Bekenntnis gab Scholz in diesem Zusammenhang zur deutschen Stahlproduktion ab. „Stahl muss in Deutschland produziert und verarbeitet werden“, sagte Scholz. „Thyssenkrupp“ hatte am Montag bekannt gegeben, dass die Zahl der Arbeitsplätze in der Stahlsparte innerhalb von sechs Jahren um 11.000 schrumpfen soll. Von derzeit 27.000 Stellen sollen dann noch 16.000 übrig sein. Er werde mit den Unternehmen und den Gewerkschaften weiter daran arbeiten, um die Stahlproduktion in Deutschland zu sichern „der Arbeitsplätze wegen und des Industriestandorts wegen“, versprach Scholz.

Mehr Fokus auf der Machbare und Wirksame

Ebenso deutlich sprach sich der Kanzler gegen Strafzahlungen deutscher Automobilhersteller aus, sollten diese die sogenannten Flottengrenzwerte der Europäischen Union nicht einhalten. Diese legen den durchschnittlich erlaubten CO2-Ausstoß aller in der EU in einem Jahr zugelassenen Fahrzeuge fest. Die Obergrenze soll bis zum Jahr 2030 mehr als halbiert werden. Bei Verstößen müssen die Hersteller zahlen. „Das werde ich mit allen Mitteln verhindern“, versprach Scholz am Donnerstag in Bochum. Gleichzeitig machte er klar, dass die Zukunft in der Elektromobilität liege. „Aber den Weg dahin, den kann man eben nicht nach Kalenderjahren vorgeben.“

Insgesamt müsse gelten: „Weniger Konzentration auf das Ideale und das Wünschenswerte. Dafür mehr Fokus auf das Machbare und Wirksame.“ Im Ruhrgebiet sind sie mit diesem Ansatz in den vergangenen 125 Jahren gut gefahren.

Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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3 Kommentare

Gespeichert von Matias Leão Ra… (nicht überprüft) am Fr., 29.11.2024 - 14:34

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Olaf Scholzes Forderung nach mehr Pragmatismus in der Politik, inspiriert durch die Erfolge der Emschergenossenschaft, ist nachvollziehbar, aber leider ohne Erkenntnisse der modernen Neurowissenschaften. Emotionale Ideale sind essentiell, um Menschen zu motivieren und zu inspirieren. Ein pragmatischer Ansatz dekonstruiert nicht in die notwendige Tiefe und langfristige Perspektive, sondern destrukturiert die komplexen Probleme und missachtet deren emotionalen Subtext. Grundsätzlich sind Regulierungen notwendig, um Umweltstandards und soziale Gerechtigkeit zu gewährleisten. Sie sind das Bollwerk gegen Raubtierkapitalismus. Deswegen werden Parlamente gewählt. Eine Balance zwischen rationalen Maßnahmen und emotionalen Leitmotiven ist daher entscheidend, um sowohl kurzfristige als auch langfristige Ziele zu erreichen und breite Unterstützung zu sichern. Der „Emscher-Spirit“ wird hier nicht pragmatisch, sondern dogmatisch verwendet, und das auf den Spuren einer schröderistischen Nachgeburt.

Gespeichert von Armin Christ (nicht überprüft) am So., 01.12.2024 - 12:31

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ist ein schönes Vorzeigeprojekt, aber leider nur oberflächlich. Käme es zu einem Blackout und die Pumpen fallen aus dann würde "das ganze Ruhrgebiet" schlichtweg absaufen oder sonstwie Wasserschaden nehmen. Das Gleichgewicht zwischen den sogenannten Bergschäden und den Kräften der Natur wird nur künstlich aufrecht erhalten.
"....... denn für jeden davon rächt sie sich an uns".