Inland

Antisemitismus: Was das „Nie wieder“ in Zeiten des Terrors bedeutet

Bei der zentralen Gedenkfeier zum 85. Jahrestag der antisemitischen Pogromnacht im NS-Staat war die Gegenwart so präsent wie lange nicht mehr. Bundeskanzler Olaf Scholz kündigte einen entschiedenen Kampf gegen Antisemitismus an.
von Nils Michaelis · 9. November 2023
Bundeskanzler Olaf Scholz und Josef Schuster, Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, bei der Zentralen Gedenkfeier zum 9. November in Berlin.
Bundeskanzler Olaf Scholz und Josef Schuster, Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, bei der Zentralen Gedenkfeier zum 9. November in Berlin.

Der Hass auf Jüdinnen und Juden erfährt dieser Tage eine neue Dimension. Die verheerende Terrorattacke der Hamas vom 7. Oktober in Israel hat auf dramatische Weise deutlich gemacht, wie gefährdet jüdisches Leben auch heute ist. Deutschland erlebt eine Welle antisemitischer Straftaten – auch und gerade am Rande von Demonstrationen gegen Israels Militäraktionen im Gazastreifen.

Und doch bleibt gerade in diesen Zeiten der Wunsch nach „Normalität“. „Wir wollen frei leben und dabei nicht auf Schutz angewiesen sein“, sagte Josef Schuster, der Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, bei der zentralen Gedenkfeier in Berlin. Selbst wenn jenes Leben ohne Schutzschilder dieser Tage so weit weg erscheine wie lange nicht mehr, sei die Formulierung des Wunsches vielleicht umso wichtiger. Zugleich bedankte sich Schuster bei den staatlichen Stellen dafür, dass sie die jüdische Gemeinschaft schützen: „Es ist eine Botschaft, die bei den Jüdinnen und Juden ankommt.“

Neue Realität

Dieser Schutz könne nie absolut sein, räumte Schuster ein. Diese Erfahrung hat auch die Berliner Gemeinde Beth Zion gemacht. In deren Synagoge fand die Gedenkfeier für die Reichspogromnacht statt. Am 17. Oktober hatten Unbekannte Molotow-Cocktails in Richtung des Gemeindezentrums geworfen. Der versuchte Brandanschlag sorgte für Entsetzen. Der örtliche Rabbiner sprach von einer „neuen Realität“.

Entsprechend hoch waren die Sicherheitsvorkehrungen an diesem 9. November. Auf der weiträumig abgesperrten Brunnenstraße, einer vierspurigen Magistrale im Bezirk Mitte, war die Polizei mit Scharfschützen und einem Räumfahrzeug in Stellung gegangen.

Angesichts der neuen Bedrohungslage forderte Schuster ein entschiedenes Vorgehen gegen Antisemitismus. Es sei etwas aus den Fugen geraten, doch noch sei die Gelegenheit, dies zu reparieren. „Doch dafür muss man sich auch eingestehen, was in den letzten Jahren schiefgelaufen ist, was man nicht hat sehen können oder wollen“, so Schuster. „Dazu gehört auch die Erkenntnis, dass hinter vorgehaltener Hand Antisemitismus in Deutschland bis in die Mitte der Gesellschaft vorgedrungen ist.“

Scholz: Versprechen des „Nie wieder“ einlösen

Bundeskanzler Olaf Scholz sicherte in seiner Rede zu, dass der deutsche Staat „jede Form von Antisemitismus, Terrorpropaganda und Menschenfeindlichkeit“ bekämpfe. „Im Kern geht es darum, das Versprechen einzulösen, das in den Jahrzehnten nach 1945 wieder und wieder gegeben wurde“, so Scholz. „Das Versprechen, auf dem unser demokratisches Deutschland gründet: „Nie wieder!“. Dieses Versprechen müssen wir gerade jetzt einlösen. Nicht nur in Worten, sondern vor allem auch in unserem Handeln.“

Am Morgen des Jahrestages hatte sich der Bundestag mit der Frage beschäftigt, wie sich jüdisches Leben in Deutschland besser schützen lässt. In einem Entschließungsantrag fordern die Koalitionsfraktionen von SPD, Grünen und FDP, unmissverständlich und mit allen rechtsstaatlichen Mitteln Antisemitismus in Deutschland, in Europa und weltweit entschieden zu bekämpfen sowie das Existenzrecht Israels aktiv und unzweideutig auf allen Ebenen und in der gesamten Gesellschaft einzufordern und die Sicherheit Israels entschlossen zu verteidigen.

Innenministerin kündigt weitere Verbote an

Bundesinnenministerin Nancy Faeser rief im Parlament dazu auf, sich dem Hass gegen Juden noch deutlicher entgegenzustellen. Den Betätigungsverboten für die radikalislamistische Terrororganisation Hamas und das palästinensiche Netzwerk Samidoun sollen weitere folgen, so die Ministerin.

Schuster und Scholz, der gemeinsam mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Bundesratspräsidentin Manuela Schwesig, Bundestagspräsidentin Bärbel Bas und zahlreichen Bundesminister*innen an der Gedenkfeier in Berlin teilnahm, betonten zudem das Mitgefühl mit den Angehörigen und Freund*innen der mehr als 200 Geiseln, die die Hamas von Israel nach Gaza entführt hat. „Die Bundesregierung wird weiter alles in unserer Macht Stehende tun, damit die Geiseln nach Hause kommen“, versprach der Kanzler.

Bei den anwesenden Menschen, die um das Leben ihrer Lieben bangen, kamen diese Worte gut an. Alma Sadé geben sie Hoffnung. Seit Wochen wartet die Berlinerin auf ein Lebenszeichen von Amit Shani. Am 7.Oktober hat die Hamas den 15-jährigen Neffen ihres Ehemannes von Israel nach Gaza verschleppt. „Wir sind dankbar für alles, was die Bundesregierung tut, um Amit und die anderen Geiseln freizubekommen“, sagte sie nach einer kurzen Begegnung mit dem Kanzler. Ein kurzer, aber eindringlicher Moment der Zuversicht an einem Gedenktag in bedrückenden Zeiten.

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