Geschichte

Wie Eduard Bernstein die SPD prägte

Zu seiner Zeit galt Eduard Bernstein als Außenseiter in der SPD. Doch er prägte die Partei nachhaltig, wurde einer ihrer geistigen Väter. Wer war der Mann, der vor 90 Jahren starb und in der SPD weitgehend vergessen ist?
von Armin Pfahl-Traughber · 16. Dezember 2022
Zwischen den Stühlen: Eduard Bernstein ist bei allen Differenzen ein geistiger Vater der SPD.
Zwischen den Stühlen: Eduard Bernstein ist bei allen Differenzen ein geistiger Vater der SPD.

Am 18. Dezember 1932, vor neunzig Jahren, starb politisch isoliert der sozialdemokratische Politiker Eduard Bernstein. Zwar galt er als Begründer einer Reformpolitik hin zu einem demokratischen Sozialismus, was ihm aber keine wirkliche Anerkennung auch in seinem eigenen politischen Lager einbrachte. Bekannt war Bernstein dort durch den „Revisionismusstreit“ geworden, wobei er auch gegen Rosa Luxemburg stritt. Viele prognostische Aussagen von Karl Marx, wie die über einen automatischen Zusammenbruch des Kapitalismus, waren für ihn durch die politische und soziale Realität widerlegt. Bernstein plädierte darüber hinaus für einen reformerischen Weg hin zum Sozialismus, womit die dogmatische Fixierung auf eine Revolution verworfen wurde. Diese Ausrichtung führte bei ihm aber nicht zu der Einstellung, eine beabsichtigte Transformation der kapitalistischen Wirtschaftsordnung zu verwerfen. Gerade dies brachte Bernstein aber wieder in den Gegensatz zur reformerischen Parteiführung in der Weimarer Republik.

Bekennender Marxist und Publizist

Entgegen verbreiteter Fehlwahrnehmungen saß er damit wie auch andere Intellektuelle „zwischen den Stühlen“. Auch wenn dies für die damit Gemeinten alles andere als angenehm ist, macht es sie gerade für die differenziert Reflektierenden interessant. So lohnt auch heute noch die Aufmerksamkeit für Bernstein und dabei zunächst für seinen Lebensweg: Der 1850 Geborene arbeitete zunächst als Bankkaufmann, was wohl mit zu seiner Politisierung in Richtung des Sozialismus führte. So trat Bernstein als seinerzeit bekennender Marxist 1872 der „Sozialdemokratischen Arbeiterpartei“ bei. In der Folge der „Sozialistengesetze“ floh er und arbeitete ab 1888 in Großbritannien publizistisch für sozialistische Zeitungen. Dabei kam Bernstein auch mit den „Fabianern“ in Kontakt, einer reformerischen Richtung des Sozialismus, die den damals noch dogmatischen Marxisten längerfristig gesehen zu einem Umdenken motivierte. Dies dokumentierte sein einflussreichstes Buch „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie“ von 1899.

Vier Aspekte der dortigen und späteren Positionen sollen hier hervorgehoben werden: Ganz nach dem wissenschaftlichen Anspruch des sozialistischen Denkens sollte dieses immer wieder an der gesellschaftlichen Realität kritisch überprüft werden. Damit einher gingen von Bernstein auch Einwände, die sich auf das Dialektikverständnis, den Klassenkampfgedanken oder die Werttheorie bezogen. Von noch größerer Bedeutung war indessen die bereits erwähnte Auffassung, wonach der Kapitalismus keineswegs automatisch zusammenbrechen würde. Auch sahen sich die meisten Arbeiter*innen nicht einem pauschalen Verelendungsprozess ausgesetzt. Bernstein leitete aus diesen Einsichten aber keine Negierung des Sozialismus als Ziel ab, sondern erkannte einerseits die Fortexistenz der Probleme massiver Ungleichheit, andererseits aber auch die Notwendigkeit zu strategischen Veränderungen. Wenn es eben nicht zu einer Entwicklung hin zu einer ökonomischen Katastrophe kommen würde, wäre eben auch die Revolution dazu nicht der richtige Weg.

Reale Veränderung statt utopische Träume

Daraus ergab sich ein zweiter bedeutsamer Gesichtspunkt, eben das Plädoyer für Reformen hin zum Sozialismus. Die gegenwärtige Gesellschaft mit kapitalistischer Prägung sollte in eine zukünftige mit sozialistischer Prägung hineinwachsen. Diese konkrete Auffassung erklärt auch seine bis heute bekanntesten Sätze: „Ich gestehe es offen, ich habe für das, was man gemeinhin unter ‚Endziel des Sozialismus‘ versteht, außerordentlich wenig Sinn und Interesse. Dieses Ziel, was immer es sei, ist mir gar nichts, die Bewegung alles. Und unter Bewegung verstehe ich sowohl die allgemeine Bewegung der Gesellschaft, d. h. den sozialen Fortschritt, wie die politische und wirtschaftliche Agitation und Organisation zur Bewirkung dieses Fortschritts.“ Anders formuliert: Nicht das Schwelgen in utopischen Träumen, sondern die reale Veränderung der Verhältnisse war ihm wichtig. Demnach sollten auch die Arbeiter*innen in den damaligen Jahren so wahrgenommen werden, wie sie als gesellschaftliche Subjekte waren und nicht wie man sie sich in einer kommunistischen Utopie vorstellte.

Mit dieser Einsicht ging drittens als Position einher, dass die Demokratie nicht nur ein Mittel, sondern eben auch ein Zweck sein sollte. Gerade in dieser Auffassung unterschied sich Bernstein von den späteren marxistischen Leninisten. Indessen stellt sich hier die Frage, was er genau unter „Demokratie“ verstand. Bernstein plädierte nämlich für eine Erweiterung der Perspektive bloß auf eine „Volksherrschaft“ hinaus. Er wies dabei auf die notwendige Gleichberechtigung aller Individuen hin, wodurch auch die Herrschaft der Mehrheit eingegrenzt werden müsse. Alle Bürger sollten bezogen auf die Freiheit den höchstmöglichen Grad erfahren. Und dann betonte Bernstein ebenso, dass eine Mehrheit von heute eine Minderheit von morgen werden könne. Damit wurde die Abwahlmöglichkeit als Bestandteil von Demokratie aber ebenso die Legitimität einer Opposition betont. Genau damit machte Bernstein deutlich, dass ein pluralistisches Demokratieverständnis im inhaltlichen Einklang mit dem von ihm bevorzugten Sozialismusverständnis stand.

Ein geistiger Vater der SPD

Diese Grundauffassung brachte ihn viertens auch dazu, den Bolschewismus rigoros zu verurteilen. Bernstein erinnerte hierbei an heute mitunter ignorierte Ereignisse: Die Diktatur unter Lenin ließ auf friedliche Proletarier*innen schießen, galten sie doch angesichts ihrer Demonstrationen als „Konterrevolutionäre“ und „Putschisten“. Es müsste daher von einer Diktatur der Partei und eben nicht von einer Diktatur des Proletariats ausgegangen werden. Die Bolschewiki gehe gegen andere sozialistische wie nicht-sozialistische Parteien mit brutalen Repressionen vor. Die gegen die Menschewiki und Sozialrevolutionäre ausgesprochenen Verbote seien ein Zeichen dafür. Mit diesen deutlichen Auffassungen gehörte Bernstein zu den Sozialisten, die sich damals nicht von der romantisierenden Euphorie für die russische Revolution blenden ließen. Auch diese besondere Einstellung macht deutlich, dass man es bei ihm eben mit einem demokratischen Sozialisten zu tun hatte. Für Bernstein bildete der Bolschewismus so einen Gegensatz zum Sozialismus.

Auch wenn viele der vorgenannten Auffassungen auch der Sozialdemokratie in der Weimarer Republik entsprachen, so schwand doch die Bedeutung von Bernstein für seine Partei. Dies mag auf den ersten Blick verwundern, denn bezogen auf die damalige Orientierung der Sozialdemokratie lässt sich eigentlich sagen: „Eduard Bernstein hat auf der ganzen Linie gesiegt“ (Carlo Schmid). Dieser Einschätzung kann insofern zugestimmt werden, dass fortan die Reformpolitik der kleinen Schritte im demokratischen Verfassungsstaat im Zentrum stand. So kann Bernstein für die damalige wie heutige Sozialdemokratie auch als ein geistiger Vater gelten. Indessen verstand er sich weiterhin eben nicht nur dem Marxismus gegenüber als kritischer Marxist, sondern auch den ökonomischen Verhältnisse gegenüber. Genau diese Auffassung erklärt den Dissens mit der allzu realpolitischen Sozialdemokratie. Heute hätte er mit seiner Partei wohl Probleme, eben mit einem Standpunkt zwischen den Stühlen.

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Armin Pfahl-Traughber

Armin Pfahl-Traughber, Politikwissenschaftler und Soziologe, ist hauptamtlich Lehrender an der Hochschule des Bundes in Brühl.

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