Geschichte

Warschauer Aufstand: „Ausdruck des unbedingten Überlebenswillens der Nation“

Vor 80. Jahren erhob sich die polnische „Heimatarmee“ gegen die deutschen Besatzer im Zweiten Weltkrieg. Welche Bedeutung der Warschauer Aufstand im heutigen Polen hat und wie eine Wiedergutmachung aussehen könnte, sagt der Polen-Beauftrage der Bundesregierung, Dietmar Nietan.

von Kai Doering · 31. Juli 2024
Deutsche Infanteristen in den Straßen von Warschau 1944: die deutschen Verbrechen in Polen in das Bewusstsein der deutschen Gesellschaft rücken

Deutsche Infanteristen in den Straßen von Warschau 1944: die deutschen Verbrechen in Polen in das Bewusstsein der deutschen Gesellschaft rücken

Am 1. August 1944 erhob sich die polnische „Heimatarmee“ gegen die deutsche Besatzungsmacht. Welche Rolle spielt dieser „Warschauer Aufstand“ heute in Polen?

Einer der letzten Funksprüche der Armia Krajowa, der kurz vor der Niederschlagung des Warschauer Aufstandes aufgefangen wurden, endete mit folgenden Worten: „Ein Volk, in dem solche Tapferkeit lebt, ist unsterblich. Denn jene, die starben, haben gesiegt, und jene, die leben, werden weiterkämpfen…“

Der Warschauer Aufstand ist für das Selbstverständnis der polnischen Nation konstitutiv, er ist Ausdruck des unbedingten Überlebenswillens der Nation. In aussichtsloser Lage hielten die Kämpfer über gut zwei Monate dem brutalen Vorgehen der deutschen Truppen Stand. Die vorrückenden sowjetischen Truppen lagen schon ganz in der Nähe, griffen jedoch nicht ein, denn auch Stalin hatte kein Interesse an einem freien Polen.

Den Kampf um die eigene Freiheit führten die Polen schon lange vor dem Zweiten Weltkrieg. Durch die imperialistischen Bestrebungen von Preußen/Deutschland und dem Zarenreich/der Sowjetunion wurde Polen seiner Souveränität beraubt und 1795 schließlich von der Landkarte getilgt. Zwischen Hitler und Stalin wurde Polen erneut von zwei Seiten attackiert und zerteilt. 

Auch im geteilten Nachkriegseuropa haben die Polen für ihre und für unsere Freiheit weitergekämpft: Lech Wałęsa und die Solidarność bereiteten den Weg für den Zerfall des Sowjetimperiums, die Friedliche Revolution in der DDR und damit letztlich auch für die deutsche Wiedervereinigung.

Dietmar
Nietan

Es ist die Aufgabe unserer Generation, diese deutschen Verbrechen in Polen in das Bewusstsein der deutschen Gesellschaft zu rücken.

In Deutschland ist das Ereignis in der breiten Bevölkerung eher unbekannt. Woran liegt das?

Wenn ich es einmal sehr pointiert sagen darf: Diese Leerstelle im öffentlichen Bewusstsein hierzulande hat etwas mit westlicher Ignoranz zu tun. 

In Bonn, Berlin und Brüssel fanden und finden es Teile der politischen Eliten immer noch sehr großzügig, dass wir die Mittelosteuropäer in unsere westlich geprägte Gemeinschaft aufgenommen haben. Die Unkenntnis und geringe Wertschätzung der Geschichte unserer östlichen Nachbarn und ihres wesentlichen Beitrags zur Freiheit Europas finde ich beschämend.

Dass wir von den Menschen aus Mittel- und Osteuropa sehr viel lernen können, dass diese Menschen zu einem großen Teil zu unserer Freiheit beigetragen haben, dass die Nationen im Osten erst vom deutschen Faschismus und dann vom sowjetischen Kommunismus gequält und unterdrückt wurden – all das hat bei der Wiedervereinigung Europas kaum eine Rolle gespielt.

Und so wundert es mich nicht, dass es leider immer noch Deutsche gibt, die den Aufstand im Warschauer Ghetto mit dem Warschauer Aufstand verwechseln. Die immer noch kein Gefühl dafür haben, wie wichtig Polen für uns war und heute vielleicht wichtiger denn je ist.

Rund 200.000 Menschen kamen in den 63 Tagen bis zur Niederschlagung des Aufstands am 2. Oktober 1944 ums Leben. Warschau wurde von der Wehrmacht größtenteils zerstört. Trotzdem wurden die Verantwortlichen in Deutschland nie zur Rechenschaft gezogen. Warum nicht?

So sehr sich bestimmte Teile der deutschen Gesellschaft – meistens waren es die progressiven Kräfte und nicht die konservativen – dafür eingesetzt haben, die präzedenzlosen deutschen Menschheitsverbrechen des Holocaust aufzuarbeiten, so sehr blieben auf der anderen Seite die unbeschreiblich grausamen Verbrechen der deutschen Besatzer in Polen als „übliches Kriegsgeschehen“ unter dem Radar des öffentlichen Diskurses.

Es ist deshalb die Aufgabe unserer Generation, diese deutschen Verbrechen in Polen in das Bewusstsein der deutschen Gesellschaft zu rücken. Das sind wir den polnischen Opfern schuldig und das dürfen die heute lebenden Polinnen und Polen zurecht von uns erwarten.

Dietmar
Nietan

Ich gehe davon aus, dass Berlin zeitnah eine angemessene humanitäre Geste gegenüber den letzten noch lebenden Opfern der deutschen Besatzung leisten wird.

Seit Jahren fordern verschiedene polnische Regierungen Reparationszahlungen von Deutschland. Ministerpräsident Donald Tusk hat nun erklärt, er wolle gemeinsam mit Deutschland nach einer Lösung suchen. Wie kann die aussehen?

Die Mehrzahl der Menschen in Polen erwartet von Deutschland konkrete Taten im Sinne einer Wiedergutmachung.

Dass die neue polnische Regierung nicht die Reparationen in den Vordergrund stellt, sondern Deutschland den Freiraum zugesteht, selbstständig eigene Initiativen der Wiedergutmachung auf den Weg zu bringen, ist für die Bundesregierung Chance und Bewährung zugleich.

Ich gehe davon aus, dass Berlin zeitnah eine angemessene humanitäre Geste gegenüber den letzten noch lebenden Opfern der deutschen Besatzung leisten wird. Ebenso würde ein stärkeres – auch finanzielles – Engagement der deutschen Seite im Bereich der Luftverteidigung für Polen und die Staaten Mittel- und Osteuropas viel Anerkennung finden.

Ende Juni hat die Bundesregierung den Realisierungsvorschlag für das schon länger geplante Deutsch-Polnische Haus in Berlin beschlossen. Was kann ein solcher Ort für das künftige deutsch-polnische Verhältnis leisten?

Mit dem Deutsch-Polnischen Haus werden wir einen wichtigen Beitrag leisten, die beschriebene Leerstelle im deutschen öffentlichen Bewusstsein zu füllen und zu einem angemessenen Gedenken an die deutschen Verbrechen gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern der Zweiten Polnischen Republik zu kommen.

Deshalb ist es wichtig, dass die Konzeption ein Denkmal vorsieht. Aber das Deutsch-Polnische Haus ist auch in die Zukunft gerichtet. Es wird ein Ort des Lernens und der Begegnung gerade auch für junge Menschen sein. Das macht Mut.

Das Interview wurde schriftlich geführt.

Der Gesprächspartner

Dietmar Nietan ist Koordinator für deutsch-polnische zwischen­gesellschaftliche und grenznahe Zusammenarbeit der Bundesregierung und SPD-Bundestagsabgeordneter aus Düren.

Dietmar Nietan, Polen-Beauftragter der Bundesregierung
Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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1 Kommentar

Gespeichert von Armin Christ (nicht überprüft) am Mo., 05.08.2024 - 07:36

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Die Geschichte Polens (und Polen-Litauens) ist komplex und in der Geschichte war "Polen" respektive seine Herrscher nicht immer nur Opfer. Unzweifelhaft war dieser Staat im späten Mittelalte/frühe Neuzeit in Europa von einer religiösen und kulturellen großen Toleranz geprägt. Aber Russland wurde von Polen aus auch mehrmals überfallen. Als sich die kontinentalen Mächte Polen unter sich aufteilten war der Gedanke einses Nationalstaates noch nicht weit verbreitet - das brachte erst die französische Revolution. Der Imperialismus Pilsudzkis sollte nicht vergessen werden ebnso wie die antisemitischen Pogrome nach dem 2. Weltkrieg.
Den weitverbreiteten Klerikalfaschismus halte ich ebenfals für bedenklich.