Geschichte

Vor 75 Jahren: Der „Wiedersehensparteitag“ der SPD in Hannover

Genau ein Jahr nach Ende des Zweiten Weltkriegs traf sich die SPD in Hannover zu ihrem ersten Parteitag seit 1931. Wirklich kontrovers wurde es an den drei Tagen selten. Nur bei einem Thema schlugen die Wellen hoch.
von Kristina Meyer · 8. Mai 2021
SPD-„Wiedersehensparteitag“ nach dem Zweiten Weltkrieg: Am 9. Mai 1946 trafen sich 258 Delegierte für drei Tage in Hannover.
SPD-„Wiedersehensparteitag“ nach dem Zweiten Weltkrieg: Am 9. Mai 1946 trafen sich 258 Delegierte für drei Tage in Hannover.

Als am 9. Mai 1946 im Speisesaal der Hanomag-Werke in Hannover-Linden der erste ordentliche SPD-Parteitag seit 1931 eröffnet wurde, trat nach Kurt Schumachers Begrüßungsansprache und den Gedenkworten für die Opfer des Faschismus der Betriebsratsvorsitzende des Maschinenbauunternehmens ans Rednerpult. Stolz berichtete Ernst Winter von der eigens für den dreitägigen Kongress vorangetriebenen Renovierung des Saals und kündigte den 258 Delegierten eine „recht derbe hannoversche und mundgerechte Mahlzeit“ an. In der Mangelsituation der ersten Nachkriegszeit war das „leibliche Wohl“ fraglos besonders wichtig für das Gelingen einer solchen Veranstaltung. Annemarie Renger jedenfalls erinnerte sich später an „die besten Erbsen- und Kartoffelsuppen, die es je gab“.

Besatzungsmächte zunächst gegen den Parteitag

Seit genau einem Jahr waren der Zweite Weltkrieg und die NS-Diktatur zu Ende, und wie im ganzen Land ging es auch beim Parteitag der wiedererrichteten SPD um sehr konkrete Versorgungsfragen und Alltagsnöte. Die Anreise der Delegierten aus den 22 Parteibezirken der drei Westzonen war kompliziert und langwierig. Übernachtet wurde vielfach bei befreundeten Genoss*innen, denn Hotelzimmer waren rar und kostspielig. Die Wirtschaft lag am Boden, es herrschte eine Nahrungsmittelkrise, und der Handlungsspielraum der wieder zugelassenen Parteien war sehr begrenzt. Ursprünglich wollten die drei westlichen Besatzungsmächte gar keinen zonenübergreifenden Parteitag zulassen, aber da sie sich der Bedeutung einer stabil rekonstituierten SPD im aufziehenden Systemkonflikt immer bewusster wurden, hatten sie dem Vorhaben der in Hannover ansässigen Parteiführung schließlich zugestimmt.

Die Zwangsvereinigung von SPD und KPD in der Sowjetischen Besatzungszone lag noch keinen Monat zurück, und die auch in Hannover wiederholte Absage der Schumacher-SPD an jegliche Zusammenarbeit mit den Kommunisten und der neuen Einheitspartei im Osten stärkte das Vertrauen der Westalliierten in die Sozialdemokratie. Umgekehrt war von Zutrauen aber wenig zu spüren: Wie ein roter Faden zog sich die Kritik am Vorgehen der Besatzungsmächte durch die Wortbeiträge des Parteitags, und vor allem Schumacher sprach mit der für ihn so typischen Verve von einer ungerechtfertigten Bevormundung durch die Militärregierungen, die den Deutschen ihr Selbstbestimmungsrecht vorenthielten. Diese wollten gerne Demokraten sein, aber „man erlaubt es ihnen nicht“ – und das sei in Verbindung mit der sich zuspitzenden Versorgungskrise eine große Gefahr für die Stimmung im Land.

Im Anschluss an Schumacher plädierte auch der Ökonom und Linkssozialist Viktor Agartz für eine sozialistische Planwirtschaft und traf damit auf breite Zustimmung unter den Delegierten. Er machte aber auch den entscheidenden Unterschied zur Politik in der SBZ deutlich: Sozialismus und Demokratie seien ohne einander nicht denkbar. Die geforderten Sozialisierungen sollten lediglich das „Großkapital“ betreffen, an das Eigentum der Kleinunternehmer und Handwerker wolle man nicht heran. Auch in die „Spintisiererei einer klassenlosen Gesellschaft“, so hatte Schumacher zuvor betont, wolle man sich nicht versteigen, sondern stattdessen „positiv das angreifen, was nötig ist, und das ist der demokratische Staat mit sozialistischem Inhalt“.

Die Abwendung vom Marxismus deutet sich an

Was die SPD 1959 mit ihrem Godesberger Programm beschloss – die Abkehr vom Marxismus, die Hinwendung zur sozialen Marktwirtschaft und die Weiterentwicklung zur Volkspartei – , deutete sich 1946 erst vorsichtig an: Der Marxismus sei sicher nicht die einzige ideelle Grundlage für ein Bekenntnis zur Sozialdemokratie, so Schumacher – aber doch die zentrale. Einige Delegierte hatten sich von ihrem neuen Parteivorsitzenden mehr erhofft. Der Remigrant und „Nelsonianer“ Willi Eichler, 13 Jahre später der Spiritus rector von „Godesberg“, forderte nicht nur ein konkretes Aktionsprogramm, sondern auch eine „innere Klärung von Begriffen und Problemen“. Auch Ludwig Metzger hielt eine Auseinandersetzung mit den „geistigen Grundlagen“ der SPD für dringend geboten, und dabei müsse sie sich an den veränderten Verhältnissen orientieren. Um im Wettbewerb mit der bürgerlichen Konkurrentin CDU neue Wählerschichten zu erreichen, müssten Vorurteile abgebaut werden – so etwa die verbreitete Annahme, die SPD sei „religions- und christentumsfeindlich“.

Die Folgen von zwölf Jahren nationalsozialistischer Frauen- und Jugendpolitik waren auch beim SPD-Parteitag ein Thema – das allerdings vorwiegend von den weiblichen Teilnehmerinnen adressiert wurde. Gerade einmal 21 Frauen befanden sich unter den 258 Delegierten, fünf von ihnen traten ans Rednerpult. „Wir Frauen, die wir schon vor 1933 im wahrsten Sinne des Wortes unseren Mann gestanden haben“, so Berty Mayer-Schreiber aus Gießen, „wir kommen heute wieder.“ Wie die anderen Rednerinnen, darunter Rosa Helfers und Louise Schroeder, stellte sie die Gleichberechtigung der Geschlechter und die Situation der Jugend in den Mittelpunkt ihres Beitrags.

Deutlicher als ihre männlichen Genossen wiesen die Frauen auf die Notwendigkeit umfassender Bildungs- und Fürsorgemaßnahmen für die junge Generation hin. Auch die Mehrfachbelastung zahlreicher Frauen wurde angesprochen, die sich neben anstrengender körperlicher Arbeit auch noch um die Kindererziehung kümmern müssten, während viele Männer schon wieder in behaglichen Amtsstuben säßen. Nach einer internen Besprechung während der Mittagspause des dritten Verhandlungstages stellten die Frauen eine Resolution zur Abstimmung, in der sie die Beseitigung nicht nur der sichtbaren Trümmer forderten, sondern auch derjenigen „in den Hirnen und Herzen“.

Beim Thema Entnazifizierung schlagen die Wellen hoch

Wirklich kontrovers diskutiert wurde beim Parteitag nur selten, aber als das Thema Entnazifizierung und Jugendamnestie auf der Tagesordnung stand, schlugen die Wellen hoch. Dass eine Resolutionsvorlage von einem „Generalpardon“ für sämtliche Deutschen sprach, die am 30. Januar 1933 noch nicht das 18. Lebensjahr vollendet hatten, wollten mehrere Delegierte nicht durchgehen lassen. Gerade bei den heute 25- bis 31-Jährigen, so etwa Otto Schmidt aus Koblenz, seien doch „die aktivsten Nationalsozialisten bis in die letzten Tage hinein“ zu finden gewesen – und bei ihnen sei die NS-Ideologie auch „heute noch am lebendigsten“. Der Delegierte Andreas Gayk aus Kiel plädierte indes für die Annahme der unveränderten Amnestie-Resolution, „denn wir wollen Ruhe haben, wollen diese Dinge endlich einmal hinter uns bringen“. Nach einer Überarbeitung des Passus wurde schließlich einstimmig eine Resolution angenommen, in der es ohne Altersgrenze und in einer weit auslegbaren Formulierung hieß, dass alle jungen Menschen, „soweit sie nicht Aktivisten waren oder kriminell belastet sind“, als „nicht verantwortlich“ zu betrachten seien.

Im Rückblick auf den „Wiedersehensparteitag“ in Hannover (Peter Merseburger) wird wie durch ein Brennglas sichtbar, dass die Nachkriegs-SPD 1946 einerseits voller Ungeduld und Tatendrang nach politischer Handlungsfähigkeit in einer neu zu errichtenden Demokratie strebte, andererseits aber noch um eine klare Orientierung und neue Strategien rang. In einer politischen Übergangssituation und unter dem Eindruck einer sich zuspitzenden Versorgungskrise war der Fokus der Partei ganz und gar auf die Nöte und Probleme der Gegenwart gerichtet – kaum mehr auf die Erfahrungen der diktatorischen Vergangenheit und nur sehr schemenhaft auf die unabsehbare Zukunft.

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Kristina Meyer

ist Sprecherin des SPD-Geschichtsforums und wissenschaftliche Mitarbeiterin der Bundeskanzler Willy Brandt Stiftung.

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