Toni Sender: Jüdin, Sozialdemokratin, „deutsche Rebellin“
Sie galt als politische Ausnahmeerscheinung. Schon früh engagierte sich die Jüdin Toni Sender in Hessen für die Sozialdemokratie. Ihrer politischen Linie blieb sie auch nach der Emigration in die USA treu.
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Toni Sender war eine hessische Sozialdemokratin.
„Freiheit ist für mich nicht nur ein unverzichtbares Element des Lebens, sondern auch eine Verpflichtung— eine Verpflichtung gegenüber der Gemeinschaft, die mir das Privileg gewährt, eines ihrer Mitglieder zu werden. Ich danke dir, Amerika, dass du mich aufgenommen und mir Gelegenheit gegeben hast, ein neues Kapitel meines Lebens zu beginnen, ein Kapitel, das ich der Pflege der Ideale widmen werde, die die edelsten Menschen kämpften und starben.“ Mit diesen Worten endet ein Buch, das 1939 auf Englisch im renommierten, linksliberalen Verlag „The Vanguard Press“ in New York mit dem Titel „The Autobiography of a German Rebel“ erscheint. Verfasst hat es eine sozialdemokratische Emigrantin, die die SPD-Historikerin Susanne Miller als „Ausnahmeerscheinung“ unter den frühen sozialdemokratischen Parlamentarierinnen bezeichnet: Toni Sender.
Eine Karriere wie Rosa Luxemburg
Toni Senders Weg in die Sozialdemokratie ist außergewöhnlich und nur mit dem Rosa Luxemburgs zu vergleichen. Beide entstammen wohlhabenden jüdischen Elternhäusern und machen als Frau Karriere, was an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert fast einem Wunder gleicht. Geboren wird Toni Sender am 29. November 1888 in Biebrich bei Wiesbaden und erhält von den orthodoxen Eltern die Vornamen Sidonie Zippora. Die häusliche Erziehung ist streng und autoritär. Der Vater, obwohl von Toni als „fröhlich und humorvoll“ beschrieben, duldet keine Widerworte und wünscht, dass auch seine Kinder seinen orthodoxen Lebensweg beschreiten. Toni Sender kapselt sich ab. Ihre Schwester Recha erzählt später: „Weißt du, an dich habe ich aus der damaligen Zeit nicht viele Erinnerungen, weil du fast nie geredet hast.“
Die Höhere Töchterschule, die Toni standesgemäß besuchen muss, langweilt sie fürchterlich. Im Alter von 13 Jahren hat sie den sehnlichen Wunsch, das Elternhaus zu verlassen und ist hocherfreut, dass ihr der Schulleiter vorschlägt, eine Klasse zu überspringen und vorzeitig die Schule zu verlassen. Mit Erlaubnis der Eltern kann Toni in Frankfurt eine private Handelsschule für Mädchen besuchen. „Das Tor zur Freiheit stand nun offen“, notiert sie in ihren Erinnerungen. Sie ist ein extrem ehrgeiziges Mädchen. Schon während ihrer Schulzeit arbeitet sie in einer Immobilienfirma und besucht Abendkurse und politische Versammlungen. Ihren ersten Arbeitsplatz findet sie in einer Metallhandelsfirma. Mit einer Freundin findet sie 1906 Zugang zur organisierten Arbeiterbewegung und zur SPD, getrieben von dem Gefühl, nicht zur „Klasse der Müßiggänger, zur Bourgeoisie“ gehören zu wollen.
Über Frankfurt nach Paris
Da der Vater die Zustimmung zu einem Studium der Nationalökonomie verweigert, ergreift Toni Sender die Chance, nach Paris zu gehen. Die Niederlassung ihrer Firma sucht eine Mitarbeiterin, die englische und französische Stenographie beherrscht. Beides hat sie nicht gelernt, aber sie ist bereit, Tag und Nacht zu arbeiten, um sich die gewünschten Fähigkeiten anzueignen. Paris wird für Toni der Ort der „wirklichen Freiheit“. Sie tritt der Sozialistischen Partei bei, wird nach kurzer Zeit stellvertretende Vorsitzende ihres Kreisverbands und findet so Zugang zu intellektuellen Zirkeln, von denen sie in Frankfurt nur hätte träumen können. Zu ihren Mentoren gehören der Elsässer Sozialdemokrat Salomon Grumbach, der radikale Antimilitarist Gustave Hervé und Jean Longuet, ein Enkel von Karl Marx.
Angesichts des aufziehenden Weltkriegs und erschüttert von der Ermordung des französischen Sozialistenführers Jean Jaurès am 31. Juli 1914, entschließt sich Toni Sender, nach Frankfurt zurückzukehren. Nach der Zustimmung der deutschen Sozialdemokraten zu den Kriegskrediten ist sie geneigt, die Partei zu verlassen. Die Bekanntschaft mit dem sozialistischen Internationalisten Robert Dißmann, einem Menschen, den sie „als Führer achtete und als Mann sehr mochte“, hält sie von diesem Schritt ab. Gemeinsam agitieren beide als Oppositionelle in Parteiversammlungen gegen den Krieg. Ihre internationalistische Grundeinstellung führt die junge Toni Sender an die Seite von Rosa Luxemburg und Clara Zetkin, mit der sie 1915 am „Internationalen Sozialistischen Frauenkongress“ in Bern teilnimmt. Flugblätter mit dem Text des in Bern verfassten „Manifest gegen den Krieg“ schmuggelt sie über die Grenze, um sie in Frankfurt zu verteilen. Als Robert Dißmann zum Militär eingezogen wird, übernimmt Toni Sender an dessen Stelle die Leitung der sozialdemokratischen Kriegsopposition in Südwestdeutschland.
Der Traum von der Räterepublik
Als führende Parteioppositionelle nimmt die in Frankfurt von der Polizei als „stadtbekannte Agitatorin“ bezeichnete Toni Sender Ostern 1917 am Gründungskongress der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD) in Gotha teil. Nach der Novemberrevolution wird Toni Sender 1918 Generalsekretärin des „Arbeiter- und Soldatenrats“ in Frankfurt. Sie ist beseelt vom Gedanken an eine Räterepublik, die sie als konsequenten Ausdruck der Revolution betrachtet. 1919 bekommt Toni Sender das Amt einer Stadtverordneten übertragen und übernimmt die Leitung der USPD-Tageszeitung „Volksrecht“. Im bitterkalten Winter 1919 zieht sich Toni Sender eine Lungenentzündung zu, an deren Folgen sie ihr Leben lang leiden wird. Dennoch arbeitet sie unverdrossen weiter. Als sie während des Wahlkampfes für die Verfassunggebende Versammlung eine Rede halten soll, weil sie als einzige Rederecht hat, erklärt sie ihrem Freund Robert Dißmann: „Ich kann nicht eine Stunde lang aufrecht stehen und sprechen“. „Dann sprich weniger als eine Stunde“, antwortet Dißmann — und Toni Sender spricht pflichtbewusst, allerdings im Sitzen. „Durch diese und ähnliche leichtsinnige Verhaltensweisen untergrub ich meine Gesundheit“, schreibt Toni Sender in ihren Erinnerungen: „Später sollte ich dafür bezahlen müssen“. Mehrfach muss sie sich für längere Zeit in stationäre Tuberkulose-Behandlung begeben.
1920 wird Toni Sender an der Spitze der nationalen Liste für die USPD in den Reichstag gewählt. Die Partei ist mittlerweile innerlich zerrissen, denn „der wenig nachgiebige linke Flügel“, wie ihn Toni Sender nennt, hat sich bolschewistisch orientiert. Die Hinwendung dieser Gruppe zur KPD macht Toni Sender nicht mit, obwohl sie für die „Diktatur des Proletariats“ einsteht. Die „Diktatur über das Proletariat“, die sie in Russland verortet, lehnt sie entschieden ab. Toni Sender bleibt unabhängig und konsequent und schließt sich 1922 der wieder vereinigten SPD an. Ihr Reichstagsmandat behält sie bei. Von 1924 bis zur Machtübertragung an Hitler vertritt sie den linken Wahlkreis Dresden-Bautzen und macht sich in der Reichstagsfraktion einen Namen als Handelspolitikerin. Als marxistische Linke befindet sich Toni Sender wieder in der Minderheit und in der Opposition zur etatistischen Fraktionsmehrheit. Während der Panzerkreuzer-Debatte bleibt sie am 20. März 1931 demonstrativ der Sitzung fern. Den Parteiaustritt ihrer sächsischen Kollegen und deren Gründung der „Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands“ (SAPD) billigt sie, nach ihren Erfahrungen in oppositionellen Gruppierungen, nicht.
Flucht in die USA
1932 setzt sich Toni Sender fast schon verzweifelt für einen Generalstreik ein, in der Hoffnung, so die nationalsozialistische Machteroberung verhindern zu können. Als Frau, Sozialistin und Jüdin steht Toni Sender alsbald auf NS-Todeslisten. Nach offenen Morddrohungen flieht sie am 3. März 1933 in die Tschechoslowakei. Ihre Ausbürgerung am 29. März 1934 erfährt Toni Sender in Belgien, wo sie als Journalistin für die sozialistische Tageszeitung „Volksgazet“ tätig ist. 1935 erhält sie eine Einladung zu einer Vortragsreise durch die USA. Angesichts der sich ausbreitenden nationalsozialistischen Bedrohung kehrt Toni Sender nicht nach Europa zurück. Auch in den USA arbeitet sie zunächst als Journalistin. Ab 1938 kann Toni Sender an der „New School für Social Research“ ihr 1927 krankheitsbedingt unterbrochenes Studium fortsetzen. 1941 wird die Staatenlose zur Direktorin des „Office of Strategic Studies“ (OSS), eines Nachrichtendienstes des US-Kriegsministeriums, berufen. 1943 erhält Toni Sender die amerikanische Staatsbürgerschaft und schließt damit die Rückkehr auch in ein befreites Deutschland aus, denn „zu viele Menschen haben zugeschaut, als die Niedertracht herrschte“.
Europa bleibt sie dennoch verbunden. 1944 wird Toni Sender zur Wirtschaftsexpertin in die Zentraleuropa-Abteilung der „United Nations Relief and Rehabilitation Administration“ berufen, die Hilfsmaßnahmen für das kriegsgebeutelte Europa koordiniert. Der US-Gewerkschaftsdachverband „American Federation of Labor“ (AFL) und der „ Internationalen Bund Freier Gewerkschaften“ entsendet sie danach als Vertreterin zu den Vereinten Nationen. Wegen einer Parkinson-Erkrankung muss die Frau, die ihr Leben lang ihre Unabhängigkeit behauptet hat, 1956 ihre Berufstätigkeit aufgeben. Toni Sender stirbt nach einem Schlaganfall am 26. Juni in New York. Ihre letzte Ruhestätte findet die „deutsche Rebelllin“ auf dem jüdischen „Beth Israel Friedhof“ in Woolbridge, New Jersey.