Geschichte

Reichstagswahl 1930: Mit einer Präsidialregierung gegen die Nazis

Das Ergebnis der Reichstagswahl am 14. September 1930 ist ein fühlbarer Einschnitt in der Geschichte der Weimarer Republik. Die NSDAP wird zweitstärkste Kraft. Obwohl die SPD gewinnt, steckt sie in einem Dilemma.
von Dirk Schumann · 14. September 2020
Titelseite des „Vorwärts“ vom 15. September 1930: Die Reichstagswahl vom Vortag stellte die SPD vor ein Dilemma.
Titelseite des „Vorwärts“ vom 15. September 1930: Die Reichstagswahl vom Vortag stellte die SPD vor ein Dilemma.

„Ein Trümmerhaufen“ – so nannte der „Vorwärts“ das Ergebnis der Reichstagswahl vom 14. September 1930. Starke Verluste verzeichneten außer dem katholischen Zentrum die bürgerlichen Parteien. Die KPD steigerte ihren Stimmenanteil um fast ein Viertel auf 13,1 PRozent. Der NSDAP aber, bei der vorherigen Wahl 1928 noch eine Splitterpartei, gelang der Durchbruch zur zweitstärksten Kraft mit 18,3 Prozent der Stimmen. Übertroffen wurde sie aber noch von der SPD, die mit 24,5 Prozent zwar ein Sechstel ihres vorherigen Anteils einbüßte, jedoch nach wie vor über weitaus mehr Reichstagssitze verfügte und entscheidend für eine Mehrheitsbildung im Parlament blieb. Ihr, dem „Fels der deutschen Republik“, kam deshalb, wie der „Vorwärts“ hoffte, weiterhin großes politisches Gewicht zu.

Die Große Koalitions unter Hermann Müller zerbricht

Das Wahlergebnis vom September 1930 markiert einen fühlbaren Einschnitt in der Geschichte der Weimarer Republik, aber keineswegs den einzigen in diesem schicksalhaften Jahr. Nicht weniger bedeutsam war das Auseinanderbrechen der von der SPD unter Reichskanzler Hermann Müller seit 1928 geführten, neben Zentrum und Linksliberalen auch die rechtsliberale DVP einschließenden Großen Koalition Ende März. Die ihr innewohnenden Fliehkräfte hatten sich nach dem Beginn der Weltwirtschaftskrise im Herbst 1929 verstärkt. Zugleich wirkten Kreise der alten Eliten von Militär, Bürokratie und Wirtschaft um den Reichswehrgeneral Schleicher hinter den Kulissen darauf hin, die SPD aus der Reichsregierung zu entfernen. Stattdessen wollten sie ein Kabinett etablieren, das sich vornehmlich auf die Vollmachten des Reichspräsidenten gemäß Art. 48 der Verfassung stützte.

Der passende Zeitpunkt dafür schien gekommen, nachdem Mitte März 1930 der Young-Plan, der die Reparationszahlungen neu regelte, endgültig vom Reichstag beschlossen wurde, auch mit den dafür notwendigen Stimmen der SPD. Als wenig später angesichts der sich verschärfenden Wirtschaftskrise die Finanzgrundlage der Arbeitslosenversicherung verändert werden musste, kam es zum Bruch der Koalition.

Nach schwierigen Verhandlungen verweigerte sich die SPD-Fraktion als einzige einem Kompromiss zur umstrittenen Frage der Beitragserhöhung, gegen den ausdrücklichen Rat ihres Reichskanzlers Müller und Reichsinnenministers Severing. Diese Entscheidung bedeute, „aus Furcht vor dem Tode Selbstmord zu verüben“, wie der Parteiintellektuelle und vormalige Finanzminister Rudolf Hilferding kritisierte. Zwar hätte sich der Koalitionsbruch letztlich kaum verhindern lassen, aber so begab sich die Partei in eine taktisch ungünstige Position.

Erfolg der NSDAP mit Ansage

Die neue Reichsregierung unter Kanzler Brüning (Zentrum) setzte nun ihr Haushaltsprogramm von Ausgabenkürzungen und Abgabenerhöhungen mit Hilfe der präsidialen Vollmachten in Kraft. Dem Widerspruch der Mehrheit des Reichstags begegnete sie Mitte Juli mit dessen Auflösung und dem Ansetzen einer Neuwahl in der Hoffnung auf Zugewinne für die hinter ihr stehenden bürgerlichen Parteien.

Doch Brüning hätte gewarnt sein müssen: Die NSDAP verzeichnete bereits seit Ende 1929 markante Zugewinne bei Wahlen, zuletzt im Juni 1930 in Sachsen, wo sie ihren Stimmenanteil verdreifacht hatte. Weitaus höher fiel die Steigerung nun im September aus, zum einen dank der Stimmen vieler Erst- und vormaliger Nichtwähler*innen, keineswegs nur aus der Mittelschicht, und zum anderen solcher, die vormals einer der bürgerlichen Parteien zugeflossen waren.

Wie sollte sich die SPD nach dem Wahlergebnis nun konkret verhalten? Der preußische Ministerpräsident Otto Braun erwartete eine „Große Koalition aller Vernünftigen“ und damit eine förmliche Regierungsbeteiligung seiner Partei. Doch sie stieß auf Ablehnung vor allem bei Reichspräsident Hindenburg, aber auch bei den bürgerlichen Parteien und in der SPD selbst, wo der Eintritt in ein Kabinett Brüning als kompromittierend gegenüber der eigenen Wähler*innenschaft erschien.

Ein dezidierter Oppositionskurs gegenüber Brüning kam jedoch gleichfalls nicht in Frage. Er hätte die aus SPD, Zentrum und Linksliberalen bestehende Regierungskoalition in Preußen in Frage gestellt und damit die Kontrolle über die Polizei im weitaus größten deutschen Einzelstaat. Genau sie war jedoch unabdingbar, wenn man dem weiteren Aufstieg der NSDAP und der von ihr ausgeübten Gewalt entgegenwirken wollte. An der Tolerierung der Präsidialregierung Brüning führte deshalb, so sehr sie die SPD belastete, kein Weg vorbei. Wie wir heute wissen, blieb ihr der Erfolg am Ende allerdings versagt.

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Autor*in
Dirk Schumann

ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Göttingen. Er ist Mitglied des Geschichtsforums der SPD. Zuletzt ist von ihm erschienen: Forschen im „Zeitalter der Extreme“. Akademien und andere Forschungseinrichtungen im Nationalsozialismus und nach 1945

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