Geschichte

November 1945: In Nürnberg wird der Nationalsozialismus angeklagt

Am 20. November 1945 beginnt in Nürnberg der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher des Nationalsozialismus. Die juristische Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs – mit Willy Brandt als Berichterstatter.
von Thomas Horsmann · 20. November 2020
Im ersten Nürnberger Prozess sind die Hauptkriegsverbrecher des Nationalsozialismus angeklagt – darunter Herrmann Göring (von links) sowie Rudolf Heß.
Im ersten Nürnberger Prozess sind die Hauptkriegsverbrecher des Nationalsozialismus angeklagt – darunter Herrmann Göring (von links) sowie Rudolf Heß.

Im schwer zerstörten Nürnberg ist der Justizpalast samt angrenzendem Gefängnis an der Fürther Straße unzerstört geblieben. Das Gebiet ringsum ist abgeriegelt. Besucher*innen erhalten nur mit Sonderausweis Zugang. Im frisch renovierten und gut geheizten Saal 600 drängen sich an diesem Dienstag, dem 20. November 1945, 120 Zuschauer*innen, 100 Zeug*innen, 70 Verteidiger, 100 Ankläger*innen und zahlreiche Militärpolizist*innen sowie 250 Journalist*innen aus aller Welt. Unter ihnen: Willy Brandt, der für eine norwegischen Zeitung berichtet. Kurz vor dem Beginn des Hauptkriegsverbrecherprozesses vor dem „Internationalen Militärtribunal“ der Alliierten gegen die Führungsspitze der Nationalsozialisten herrscht Aufbruchsstimmung.

Um kurz vor 10 Uhr werden die 21 Angeklagten, die Elite des Nationalsozialismus, darunter Herman Göring, Wilhelm Keitel und Rudolf Hess hereingeführt. Von den ursprünglich 24 Angeklagten fehlen Martin Bormann, der in Abwesenheit angeklagt ist, sowie Robert Ley, der sich umgebracht hat, und Gustav Krupp von Bohlen und Halbach, der verhandlungsunfähig ist. Es fehlt auch die Führungsspitze der Nazis, die sich durch Suizid der Verantwortung für ihre Taten entzogen haben: Adolf Hitler, Heinrich Himmler und Joseph Goebbels.

Prozess als Sieg des Völkerrechts

Pünktlich um 10 Uhr eröffnet der Vorsitzende Richter Geoffrey Lawrence (GB) den Prozess. Hinter den acht Richtern, je zwei aus den USA, Großbritannien, Frankreich und der Sowjetunion, stehen die Fahnen der vier Alliierten. Ein Vertreter der US-Anklage verliest die 49-seitige Anklageschrift mit den vier Hauptanklagepunkten: Verschwörung gegen den Weltfrieden, Planung und Durchführung eines Angriffskriegs, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Anklagepunkte, die teils auf neuen völkerstrafrechtlichen Normen beruhen. Alle Angeklagten erklären sich für nicht schuldig.

Der Prozess ist ein Novum in der Geschichte. Denn erst Ende 1943 beschließen die "großen Drei" Winston Churchill, Josef Stalin und Franklin D. Roosevelt, dass die Hauptkriegsverbrecher strafrechtlich verfolgt werden sollen. Vor allem Präsident Roosevelt will den Sieg über die Nazis nutzen, um das humanitäre Völkerrecht auf neue Grundlagen zu stellen. Das Vorhaben ist nicht einfach, denn vier Staaten mit sehr unterschiedlichem Rechtsverständnis sollen gemeinsam zu Gericht sitzen. Erstmals in der Geschichte werden Politiker für völkerrechtliche Verbrechen persönlich zur Verantwortung gezogen. Im August 1945 werden die nötigen Rechtsgrundlagen geschaffen und im Londoner Viermächte-Abkommen festgelegt. Das Gericht erhält die Form eines Internationalen Militärtribunals in dessen Statuten die Anklagepunkte festgesetzt werden.

Problematisch ist, dass der Anklagepunkt „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ noch kein Teil des Völkerrechts ist und damit dem Grundsatz widerspricht: keine Strafe ohne Gesetz. Deshalb werden im Prozess auch nur Verbrechen gegen die Menschlichkeit bestraft, die zusammen mit einem Kriegsverbrechen oder mit einem Verbrechen gegen den Frieden begangen werden.

Chefankläger mit klarer Vision

Besonders der US-amerikanische Chefankläger Robert H. Jackson, ein ehemaliger Bundesrichter, sieht in dem Prozess eine Chance, ein weltweites multilaterales Sicherheitssystem auf Grundlage von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu schaffen. "Dass vier große Nationen, erfüllt von ihrem Siege und schmerzlich gepeinigt von dem geschehenen Unrecht, nicht Rache üben, sondern ihre gefangenen Feinde freiwillig dem Richterspruch des Gesetzes übergeben, ist eines der bedeutsamsten Zugeständnisse, das die Macht jemals der Vernunft eingeräumt hat", sagt er am ersten Prozesstag. Und: „Die wahre Klägerin vor den Schranken dieses Gerichts ist die Zivilisation.“

Die Anklagevertretung führt den Prozess als "Dokumentenprozess". An den 218 Prozesstagen werden zwar 240 Zeug*innen gehört, aber die meisten Beweise sind schriftlicher Natur und werden von Filmaufnahmen untermauert. Insgesamt werden dem Gericht über 5.000 Dokumente vorgelegt, das Sitzungsprotokoll ist 16.000 Seiten dick. "Diese gewaltige Dokumentation, die die Alliierten aufgebaut hatten, war gewaltig und niederdrückend", beschreibt Willy Brandt seine Eindrücke des Prozesses. Was der spätere SPD-Vorsitzende jedoch vermisste, war eine Beteiligung von jemandem des anderen Deutschlands am Prozess.

Zwölf Todesurteile, sieben Haftstrafen

Am Ende des Prozesses, am 1. Oktober 1946, werden im Saal 600 zwölf Todesurteile ausgesprochen, drei Angeklagte erhalten lebenslange Haftstrafen und vier langjährige Haftstrafen, drei werden freigesprochen. Weitere Nürnberger Prozesse folgen, doch ohne die Sowjetunion, die sich im beginnenden Kalten Krieg nicht mehr mit den anderen Alliierten einigen kann.

Doch der erste Prozess vor einem internationalen Tribunal ist einer der wichtigsten Meilensteine für die Entwicklung des modernen Völkerstrafrechts. Der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess ist ein Vorläufer des Internationalen Strafgerichtshofs im niederländischen Den Haag. 

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