Kurt Schumacher: Vater der Nachkriegs-SPD
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Als Kurt Schumacher im Mai 1946 zum Vorsitzenden der SPD in den Westzonen gewählt wurde, konnte er mehr als zufrieden sein. 244 von 245 gültigen Stimmen – das war ein triumphales Ergebnis. Zudem akzeptierte der in Hannover zusammengekommene Parteitag bei der Besetzung der übrigen Vorstandspositionen allein diejenigen Kandidaten, die Schumacher im Vorfeld benannt hatte. Dieser Vertrauensbeweis zeugte von der Autorität des charismatischen Parteiführers.
Mit Schumacher gelangte nicht bloß ein durchsetzungsstarker, sondern auch leidenschaftlicher Politiker an die Spitze der Sozialdemokratie. Trotz seiner bald zehnjährigen KZ-Haft war sein politischer Wille ungebrochen. Ausgemergelt und von einer schweren Verletzung aus dem Ersten Weltkrieg gezeichnet, doch voller Ideale kämpfte Schumacher für den Aufbau einer sozialistischen Demokratie, in der sich die SPD als führungswillige und gegenwartsorientierte Volkspartei profilieren sollte.
Frühe Prägungen und Fronterlebnis
Vor 126 Jahren am 13. Oktober 1895 im westpreußischen Culm geboren, verlebte Schumacher seine Kindheit im Deutschen Kaiserreich in einem bürgerlichen Elternhaus. Sein Vater war ein gut situierter Lebensmittelhändler und engagierte sich als linksliberaler Stadtverordnetenvorsteher. Als einziger Sohn der Familie wurde Kurt Schumacher streng, zugleich jedoch zur weltanschaulichen Toleranz erzogen. Während seiner Gymnasialzeit missfiel ihm die Gängelung seiner vielen polnischen Mitschüler. Fasziniert von der Bewegung und Gedankenwelt der Sozialdemokratie, abonnierte Schumacher von seinem Taschengeld die Sozialistischen Monatshefte, wodurch er sich zu einem Anhänger des revisionistischen SPD-Flügels entwickelte.
Im Ersten Weltkrieg gehörte Schumacher zur Frontgeneration. Sozialdemokratisches Denken verband sich bei ihm mit einem patriotischen Bekenntnis zur Nation. Ein „vaterlandsloser Geselle“, so ein bis zum „Burgfrieden“ von 1914 gebräuchliches Verdikt gegen die Sozialdemokratie, war Schumacher gewiss nicht. Noch vor der Einführung des Notabiturs meldete er sich freiwillig für den Kriegseinsatz. Bereits nach zwei Wochen an der Front wurde er stark verletzt, sodass ihm der rechte Arm bis zur Schulter amputiert werden musste. Mit dem Kriegserlebnis brach für ihn eine Welt zusammen.
Multifunktionär der Sozialdemokratie
In der Weimarer Republik intensivierte Schumacher, der während des Kriegs in die SPD eingetreten war, sein politisches Engagement. Im Jahr 1920 ging er nach einem Studium der Rechtswissenschaft und Nationalökonomie als Redakteur zur Schwäbischen Tagwacht nach Stuttgart. Die Anstellung bei dem Parteiblatt erfolgte auf Initiative des Chefredakteurs Wilhelm Keil, einem sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten. In Württemberg avancierte Schumacher bald zum Multifunktionär. Dass sich die journalistische Arbeit mit weiteren Parteiaufgaben verschränkte, war für den Aufstieg eines zielstrebigen und karrierebewussten Sozialdemokraten typisch. Schumacher gewann als Versammlungsredner öffentliches Profil, was ihm 1924 ein Landtagsmandat einbrachte.
Sechs Jahre später zog er – inzwischen promoviert – in den Reichstag ein. Seit 1932 gehörte er dem Fraktionsvorstand an. Als Mitglied des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold war er bereit, die von den Nationalsozialisten und Kommunisten bedrohte Republik notfalls auch mit Gewalt zu verteidigen. „Die ganze nationalsozialistische Agitation ist ein dauernder Appell an den inneren Schweinehund im Menschen“, brachte es Schumacher in einer Reichstagsrede auf den Punkt, der NSDAP sei zum ersten Mal „in der deutschen Politik die restlose Mobilisierung der menschlichen Dummheit gelungen“. Einige Passagen der Rede des Partei- und Fraktionsvorsitzenden Otto Wels gegen das „Ermächtigungsgesetz“ im März 1933 stammten ebenfalls aus seiner Feder.
Leidenszeit unter dem NS-Regime
Für Schumacher begann mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten eine Zeit voller Terror und Gewalt. Die Arbeiterbewegung wurde systematisch zerschlagen. Angesichts der wachsenden Bedrohung ins Exil zu gehen, lehnte Schumacher kategorisch ab. Er wurde alsbald verhaftet und bis 1943 in verschiedenen Konzentrationslagern im heutigen Baden-Württemberg und Bayern seiner Freiheit beraubt. Nach dem gescheiterten Attentat vom 20. Juli 1944 wurde Schumacher im Rahmen der Aktion „Gitter“ abermals inhaftiert und kam erst kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs wieder frei.
Nach dem Zusammenbruch des „Dritten Reichs“ leitete Kurt Schumacher aus seiner kompromisslosen Haltung gegenüber den Nationalsozialisten einen Führungsanspruch ab. Von Hannover aus betrieb er mit dem „Büro Dr. Schumacher“ den Neuaufbau der SPD, die einen demokratischen Staat errichten sollte. Daran ließ er auf der Konferenz von Wennigsen, die einen Meilenstein auf diesem Weg darstellte, im Oktober 1945 keinen Zweifel. Wenn es um moralischen Rigorismus ging, ließ sich Schumacher kaum übertreffen. Gezielt wusste er die Nachkriegskarrieren von älteren Sozialdemokraten zu verhindern. Vor allem der einstige Innenminister von Preußen, Carl Severing, sowie der langjährige Reichstagspräsident Paul Löbe hatten darunter zu leiden.
Kritik an Westintegration und NATO
Auch die Zwangsvereinigung von KPD und SPD zur SED im April 1946 in der Sowjetischen Besatzungszone lehnte Schumacher ab. Den schwankenden Kurs von Otto Grotewohl und des von Berlin aus operierenden SPD-Zentralausschusses gegenüber den Einheitsparteibestrebungen der Kommunisten verurteilte er aufs Schärfste. Die aus Moskau gesteuerten KPD-Funktionäre galten ihm als „rotlackierte Faschisten“.
Zugleich kritisierte Schumacher die von Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) seit 1949 betriebene Politik der Westintegration, weil sie nach seiner Einschätzung den Weg zur deutschen Wiedervereinigung verbaute. Er agitierte gegen den Beitritt der Bundesrepublik zur NATO und gegen den Schuman-Plan zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Dennoch verstand Schumacher die Rolle des Oppositionsführers im Deutschen Bundestag konstruktiv und wirkte so prägend für dieses wichtige Amt in der parlamentarischen Demokratie.
Im Jahr 1951 erlitt Schumacher einen Schlaganfall und wurde von seiner engen Weggefährtin in der SPD, Annemarie Renger, bis zu seinem Tod am 20. August 1952 aufopfernd gepflegt. Die Überführung des Leichnams von Bonn nach Hannover und die Beerdigung dort begleiteten unzählige Mitglieder und Sympathisanten der Sozialdemokratie und legten damit ein beeindruckendes Bekenntnis zur Arbeiterbewegung ab. Zu Schumachers bleibenden Verdiensten gehört sein entschiedener Kampf gegen jedwede Form des Extremismus, gleichgültig ob von links oder von rechts.
ist Vorstandsvorsitzender und Geschäftsführer der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung; bis Juni 2019 leitete er das Referat Public History im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung. Er hat im Verlag J.H.W. Dietz Nachf. den Briefwechsel von Willy Brandt und Helmut Schmidt herausgegeben (2015) und für den Reclam Verlag eine kompakte Schmidt-Biografie (2018) geschrieben.