Geschichte

Gerhard Schröder: „Uneingeschränkte Solidarität“ war wohlüberlegt

Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 sprach der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder den USA die „uneingeschränkte Solidarität“ Deutschlands aus. Wie es dazu kam und warum er später die Vertrauensfrage stellte, erklärt er im Interview.
von Kai Doering · 9. September 2021
Brennendes World-Trade-Center am 11. September 2011: Das war erschütternd.
Brennendes World-Trade-Center am 11. September 2011: Das war erschütternd.

Wie haben Sie am 11. September 2001 von den Anschlägen auf das World Trade Center erfahren?

Ich war in meinem Büro im Kanzleramt und hatte gerade ein Gespräch mit dem ungarischen Ministerpräsidenten beendet. Nun saß ich am Schreibtisch an einer Rede, die ich am nächsten Tag im Bundestag halten sollte. Auf einmal stürzte meine Büroleiterin Sigrid Krampitz herein und sagte: „Da ist was Schlimmes in New York passiert!“ Sie stellte den Fernseher an, und da waren diese schrecklichen Bilder auf CNN, wie gerade das zweite Flugzeug in einen der Türme krachte. Menschen waren zu sehen, die aus Fenstern sprangen, wissend, dass sie sterben würden. Das war erschütternd. Mir war sofort klar: Das ist ein terroristischer Angriff, das wird weitreichende Folgen haben. Die Amerikaner werden und können das nicht auf sich beruhen lassen.

Wie groß war Ihre Sorge, dass es auch zu einem Anschlag in Deutschland kommt?

In einer solchen Situation muss man das Gefühl von Ohnmacht und Wut, das einen befällt, abstreifen und die Fäden in die Hand nehmen. Deswegen war klar, dass wir uns schnell in der Bundesregierung über die Folgen, die Sicherheitsmaßnahmen für Deutschland und unsere politische Reaktion verständigen mussten. Natürlich war da auch die Sorge, dass es zu Attentaten in Deutschland kommt. Später wurde ja auch bekannt, dass einige der Attentäter eine Zeit lang in Hamburg gelebt hatten. Ich habe also Außenminister Fischer, Innenminister Schily und Verteidigungsminister Scharping angerufen und sie ins Kanzleramt einbestellt. Das Sicherheitskabinett hat sofort umfassende Maßnahmen beschlossen, etwa für den Flugverkehr und für öffentliche Gebäude. Es folgte ein nicht unumstrittenes Terrorismusbekämpfungsgesetz, das aber in dieser konkreten Bedrohungslage notwendig war.

Direkt am folgenden Tag haben Sie in einer Regierungserklärung im Bundestag dem amerikanischen Präsidenten „die uneingeschränkte Solidarität Deutschlands“ zugesichert und die Anschläge als „eine Kriegserklärung gegen die gesamte zivilisierte Welt“ bezeichnet. War diese Haltung in der damaligen rot-grünen Bundesregierung einhellig?

Der Begriff der „uneingeschränkten Solidarität“ war wohlüberlegt. Er sollte klar machen, dass wir auch eine Beteiligung an militärischen Interventionen nicht ausschließen konnten und auch nicht ausschließen wollten. Ein NATO-Mitglied, ein befreundetes Land, zudem unser wichtigster Partner, war auf seinem eigenen Territorium angegriffen worden. Auch wir Deutschen hätten, wären wir angegriffen worden, von unseren Partnern nichts anderes als uneingeschränkte Solidarität erwartet. Und dies kann auch Militäreinsätzen einschließen. Im Bundeskabinett war das keine Frage, aber in den Bundestagsfraktionen war es schwieriger. Es gab Widerstand, weshalb ich später auch das Mittel der Vertrauensfrage genutzt habe. Aber ich will auch klar machen, dass ich weder damals noch heute die Haltung der Gegner kritisieren will. Da geht es wirklich um Gewissensfragen.

Es war das erste und bisher einzige Mal, dass ein Kanzler eine Sachentscheidung mit der Vertrauensfrage verbindet. Warum haben Sie sich zu diesem Schritt entschieden?

In zentralen Fragen müssen eine Kanzlerin oder ein Kanzler ihre Mehrheit im Bundestag zusammenbringen. Wenn man das nicht schafft, sondern auf die Opposition angewiesen ist, dann ist das Ende nahe. Diese Sorge musste ich damals haben, weil die Zahl der Gegner unsere Regierungsmehrheit gefährdet hat. Deshalb habe ich die Vertrauensfrage gestellt. Hätten wir keine Mehrheit gehabt, hätte das nach nur zwei Monaten bereits wieder Neuwahlen bedeuten können. Das wäre in einer solchen politischen Lage, wo alle Führung erwarten, und das zu recht, eine Katastrophe für die Demokratie gewesen, im Übrigen auch für die SPD als Regierungspartei.

Kurz nach dem 11. September erklärte US-Präsident George W. Bush den „War on Terror“. Am 7. Oktober 2001 begann der Krieg in Afghanistan, um die herrschende Taliban-Regierung zu stürzen und Al-Qaida zu bekämpfen. War für Sie sofort klar, dass sich Deutschland an dem Einsatz beteiligen muss?

Die NATO rief den Bündnisfall aus, der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen legitimierte eine Militäraktion in Afghanistan und es wurde eine internationale Anti-Terror-Allianz gebildet, der auch viele muslimische Staaten angehörten. Und als Teil dieses internationalen Bündnisses wollte und musste Deutschland seinen Beitrag leisten. Die Fehler begannen später, als versucht wurde, den Irak-Krieg zu einem Bestandteil des Kampfes gegen den internationalen Terrorismus zu machen. Dieser Krieg war damit aber nicht begründbar, und wir haben ihn auch abgelehnt. Aber vor allem haben die USA damit ihren Fokus von Afghanistan weg verlagert. Das hat zum Wiedererstarken der Taliban geführt.

20 Jahre später beherrscht Afghanistan wieder die Medien. Die Taliban haben das Land blitzartig zurückerobert. Ist der internationale Einsatz gescheitert?

Gescheitert ist der geordnete Abzug, den alle wollten. Es ist ein Desaster – politisch wie humanitär. Unsere Vorstellung im Jahr 2001 war, als westliches Bündnis gemeinsam reinzugehen und nach Beendigung auch gemeinsam wieder rauszugehen. Aber dann hat Präsident Trump, ohne Konsultationen mit den Bündnispartnern, begonnen mit den Taliban über einen Abzug zu verhandeln. Präsident Biden hat diesen Kurs fortgesetzt, weil er in einer einsamen Entscheidung den Abzug bis zum symbolhaften Datum 11. September durchführen wollte, ohne Rücksicht auf die Verbündeten. Die zentrale Erkenntnis ist: Das westliche Bündnis funktioniert nicht mehr, weil wir uns nicht mehr auf die USA verlassen können. Sie lassen uns hängen – und zwar unabhängig davon, wer US-Präsident ist. Das wird Konsequenzen für künftige internationale Einsätze haben müssen.

Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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